Aus meinem Leben. Straßenjungen

Erzählung zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  EkkehartMittelberg

1942 zogen wir in ein großes geräumiges Haus der Stadt um, das meinem Vater als Lehrer günstig vermietet wurde. Der Umzug brachte neue Spielkameraden mit sich. Während diese vorher aus Beamtenfamilien kamen, waren es jetzt Kinder von Bergleuten.

Obwohl ich erst vier Jahre alt war, spürte ich den Unterschied in der Sprache. Diese Jungen benutzten andere Ausdrücke als die früheren Kameraden. Sie nannten ein Mädchen Schickse, einen Jungen Jaust, gingen nicht zum Essen, sondern zum Spachteln, nicht zum Schlafen, sondern zum Pofen. Es waren aber nicht nur die lexikalischen Unterschiede, die gesamte Intonation war rauher.

Sie ließen mich durch kleine Sticheleien spüren, dass ich nicht ihren „Stallgeruch“ hatte und ich hatte bald den Spitznamen Stachu. Es ist interessant, wie es dazu kam.. In Westfalen gab während des Zweiten Weltkriegs es bei den Bauern russische Kriegsgefangene als Landarbeiter, die mit geschickter Handarbeit aus Draht geflochtene Körbchen herstellten und verkauften. Meine Mutter hatte ein solches gekauft und meine Kameraden sahen mich damit zum Einkaufen gehen. Weil sie wussten, dass das Körbchen von Russen erstellt war, verpassten sie mir den russischen Namen Stachu.

Sie selber sprachen einander nur mit Spitznamen an. So hießen die Anführer der Spielgruppe Patsch und Witsch. Patsch hatte seinen Namen erhalten, weil er als kleiner Junge gerne im Schlammgraben spielte und Witsch, weil er sich beim Fußballspielen mit seinem schlanken, sehnigen Körper in jede Lücke schlängelte.

Die Clique empfand mich den Neuling, den Sohn eines Lehrers, nicht als Bereicherung. Sie duldete mich. Aus ihrer Sicht hob ich mich am meisten dadurch von ihnen ab, dass ich Klavier spielte. Sie hörten das von der Straße her und neckten mich mit Zurufen. „Stachu, spiel mal „Schwarzbraun ist die Haselnuss.“ Das konnte ich nicht und sie lachten mich aus.

Ich gewann dennoch ihren Respekt beim Fußballspielen, weil ich beim Elfmeterschießen einen harten, platzierten Schuss hatte.

Alle diese Jungen hatten später angesehene Jobs, besonders Witsch, der als Kaminmaurer für Hochschornsteine „klotzig“ verdiente.

Weil ich auswärts studierte, verloren wir uns aus den Augen. Aber wenn wir uns doch mal auf einer Tanzveranstaltung trafen, war aus dem früheren Respekt Zuneigung geworden. Sie freuten sich, dass einer aus ihrer Clique studierte und ich war stolz auf sie, die es mit Hauptschulabschluss zu einem angesehenen Job gebracht hatten.




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Kommentare zu diesem Text


 Terminator (18.04.22, 00:25)
Eine Kindheit in einem "Krieg in Europa", und nächstes Jahr geht der Bombenkrieg richtig los. Ganze Städte werden ausgelöscht. 1943-45 in Deutschland, wie erlebt man das als Kind?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 01:49:
Merci, Jack.. Hoffentlich behältst du mit dem Bombenkrieg nicht recht.
LG
Ekki

 Terminator antwortete darauf am 18.04.22 um 02:02:
Ich meine, in deiner Erzählung. Es geht doch noch weiter? Ich schau mir seit zwei Jahren Woche für Woche World War Two von Indy Neidell und Spartacus Olsson auf Youtube an. Eigentlich eine Aufarbeitung von etwas, das in unseren Tagen nicht mehr möglich schien.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 18.04.22 um 10:45:
Hallo Jack, vielleicht magst du "Meine Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkriegs" lesen, in denen ich meine Erfahrungen als Kind mit den Bombenangriffen der Alliierten beschreibe.
Taina (39)
(18.04.22, 08:52)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 18.04.22 um 10:50:
Merci, Taina, ja, die Zeit war anders. Vielleicht war der Umgang der Menschen miteinander naiver. Das heißt freilich nicht, dass es weniger Bösartigkeit gab.
Teolein (70)
(18.04.22, 09:07)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 18.04.22 um 10:55:
Vielen Dank, Teo. Die Bezeichnung Jaust war damals stark verbreitet. Heute wird sie nur noch selten verwendet. Ich weiß nicht, warum, denn Jaust war nicht abwertend gemeint.
Liebe Grüße
Ekki

 plotzn (18.04.22, 11:37)
Patsch und Witsch - welch lautmalerische Spitznamen, Ekki! Gegen Deine Erzählungen erscheint mir meine Jugend stinklangweilig.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 16:48:
Gracias, das stimmt Stefan, diese "Proletenkinder" waren sprachlich sehr erfinderisch.
Liebe Grüße
Ekki

 Graeculus (18.04.22, 14:47)
Stachu ist ja kein geläufiger russischer Name. Wie kamen sie darauf?

Was mich interessiert: Spielten konfessionelle Gegensätze unter den Kindern eine Rolle? Bei mir, ein Jahrzehnt später unter den Bedingungen eines religiösen Roll-backs, war das der Fall. "Die Evangelischen" waren geschworene Feinde.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 16:56:
Ich weiß es nicht, vermute aber, dass die Wahl auf Zufall beruht. Vielleicht kannte einer einen Kriegsgefangenen, der so hieß.
Mit den konfessionellen Gegensätzen triffst du voll ins Schwarze, wenngleich sie in unserer Clique nicht ausgetragen wurden. Einer der beliebtesten Sprüche war: Evangelische/ Katholische Ratten, mit Scheiße gebacken, mit Pisse gerührt, zum Himmel geführt.

 Dieter_Rotmund (18.04.22, 15:25)
Liedtitel führen in der Regel keinen Satzpunkt, auch wenn die Titel wie Sätze wirken.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 18.04.22 um 15:26:
Ansonsten gerne gelesen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 17:00:
Danke. Aber hier schließt der Liedtitel den Satz ab.

 AchterZwerg (18.04.22, 16:58)
Lieber Ekki,
eure Wiedersehensfreude kann ich sehr gut verstehen; sie erinnert mich stark an meine frühere Arbeit.
Auch ich platzte fast vor Solz, wenn es meiner  Anvertrauten geschafft hatten: Hauptschulabschluss oder gar Mittlere Reife.  Ein paar das Abitur. Und danach eine Ausbildung ...
Die größte Freude machte mir aber ein halbwüchsiger, recht lauter Rom ohne jedweden  Abschluss, der trotz allerungünstigster Voraussetzungen (Mutter suchtkrank) eine Arbeitsstelle auf dem Bau beginnen konnte.
Bei unserem Wiedersehen stürzte er (lachend) fast vom Gerüst: Frau D., Frau D,; - eigentlich bin ich ein guter Junge, ne?

Stimmt
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 17:06:
Grazie, Piccola, ich wiederum kann mich in diesen dankbaren Rom hineinversetzen. Zu diesem Thema könnten wir wahrscheinlich beide noch ein paar Anekdoten erzählen.

 GastIltis (18.04.22, 18:33)
Hallo Ekki,
jetzt kommt so langsam der Zeitpunkt, an dem ich versuchen könnte mitzureden. Wenn es mir vergönnt wäre, so zusammenhängend und übersichtlich zu schreiben. Dass ich den ersten Teil gelesen hatte, in dem mir die Geschichte von dem Juden Engel nicht neu war, ist selbstredend. Zum Glück sind die Abschnitte so gestaltet, dass man die Übersicht behält und nicht ermüdet. Aber wer dich kennt, weiß das ja von dir. Es bringt aber nichts, seine eigenen Geschichten dagegen zu setzen; dein Leben und dein Stil sind etwas Eigenes.
Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.04.22 um 19:31:
Gracias, Gil. Ich bitte dich geradezu, auch aus deiner Vita zu berichten, zum einen, weil mich das Leben eines Freundes interessiert und zum anderen, weil wir Westler trotz eifriger Lektüre von Romanen aus  der DDR von deren Alltagsleben immer noch wenig wissen.
Herzliche Grüße
Ekki
Agnete (66)
(18.04.22, 21:53)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.22 um 00:13:
Grazie, Agnete. Du bringst es auf den Punkt: Man muss gelebt haben, um erzählen zu können.
LG
Ekki

 Saira (19.04.22, 10:05)
Lieber Ekki,
 
ich habe deine Erzählung sehr gerne gelesen. Es war mir, als würdest du sie mir vorlesen und ich würde dir lauschen können und es erinnert mich an die vielen Geschichten, die mir meine Oma über ihr Leben erzählt hatte. Sie wurde 1902 geboren und starb 1983. Zwei Weltkriege und andere Welten und immer hing ich wie gebannt an ihren Lippen.
 
Danke für den geschenkten Einblick in deine Vita!
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.22 um 10:14:
Vielen Dank, Sigi, ich habe zwar das Ende des Zweiten Weltkriegs bewusst erfahren, bin aber froh, anders als deine Oma eine so lange Zeit des Friedens erlebt zu haben.
Herzliche Grüße
Ekki
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