Aus meinem Leben. Hunger

Bericht zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Ich berichte über das Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg endete. Die Versorgung mit Lebensmitteln in Deutschland wurde knapp und hätte ohne die Hilfe der USA und Großbritanniens nicht ausgereicht.

Ich stelle meiner persönlichen Impression einen allgemeinen Bericht voran.


Nahrungsmittelnot wächst

Die Nahrungsmittel werden mit Hilfe von Lebensmittelkarten verteilt. Jeder Deutsche hat Anspruch auf eine von den Alliierten festgelegte Mindestzahl von Kalorien. So haben z. B. die Bewohner der US-Zone im Dezember 1945 ein Anrecht auf Lebensmittel mit einem Nährwert von täglich 1550 Kalorien pro Kopf. Da die Rationen häufig nicht ausreichen, fahren viele Deutsche zu »Hamsterfahrten« aufs Land. Dort tauschen sie bei Bauern ihre über den Krieg geretteten Wertgegenstände gegen Gemüse oder Milchprodukte.

Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten leiden auch die Siegermächte unter einer Nahrungsmittelknappheit. Wie in Deutschland haben die Landwirte in anderen europäischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges ihre Felder und Äcker vernachlässigen müssen. Fehlende Arbeitskräfte, Maschinen und Düngemittel sind die Ursachen der in den letzten Jahren stetig gesunkenen Ernteerträge. So können z. B. in Deutschland 1945 lediglich rund 1,33 Millionen t Getreide und 5,5 Millionen t Kartoffeln geerntet werden, 1939 waren es noch etwa 2,6 Millionen t Getreide und 8,5 Millionen t Kartoffeln. Um die Nahrungsmittelknappheit zu lindern, wird jeder Quadratmeter Boden genutzt. In Parkanlagen, Vorgärten und Hinterhöfen wachsen Tomaten, Kartoffeln, Salat oder Kohl. Wer über kein geeignetes Saatgut verfügt, bereichert seinen Speisezettel mit selbst angebauter Brennnessel. Auch »Unkraut« lässt sich in Zeiten der Not als Suppe oder Salat zubereiten.“

Quelle: 1945 - Nahrungsmittelnot wächst (chroniknet.de)

Ich erinnere mich, dass mein jüngerer Bruder und ich damals abends eine Schnitte Brot bekamen. Einmal hatte sich meine Mutter verzählt oder sie tat so und ich erhielt zwei Schnitten. Das war für mich ein Glücksgefühl wie Weihnachten. Mein Vater war noch nicht aus dem Kriege zurückgekehrt und so konnten wir nicht auf überfüllten Zügen an den gefährlichen Hamsterfahrten aufs Land zu unserer bäuerlichen Verwandtschaft teilnehmen. Kurz: Wir litten Hunger.

Es ging wie gesagt nicht allen so. Einige machten erfolgreiche Schwarzmarktgeschäfte oder hatten persönliche Beziehungen zu Bauern. Eine Nachbarin, deren Kind zu unserer Clique gehörte, hatte reichlich zu essen. Die unsensible dumme Frau hängte sich regelmäßig nachmittags während wir auf der Straße spielten, aus dem Fenster und rief: “Helga, reinkommen, ein Butterbrot essen!“, um zu demonstrieren, wie gut es ihrer Familie ging. Aber die Protzerei hatte bald ein Ende. Die Clique versammelte sich vor ihrer Wohnung und rief zum Fenster hinauf: „Frau Leihfeld, rauskommen, Haumichblau abholen.“

Für mich persönlich änderte sich die Situation von Grund auf, als mein Vater schon 1945, ohne in Gefangenschaft zu geraten, heimkehrte und zunächst keine Anstellung als Lehrer fand, weil er nicht entnazifiziert war. Er wurde Geschäftsführer bei einer Firma, die Sämereien für Gärten verkaufte und nach Feierabend bearbeitete er unseren großen Garten, der unsere Familie ausreichend ernährte.




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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (20.04.22, 01:09)
Schon "der keine Hunger" kann einen ja plagen. Das heißt natürlich nicht, dass ich mir richtigen Hunger vorstellen kann. Aber da mir "der kleine Hunger" schon reicht, will ich das auch nicht und musste es zum Glück in meinem Leben auch noch nie.


Noch zwei Anmerkungen:

a) Interessant, wie du beschreibst das die allernotwendigsten Dinge des Lebens als Statussymbol benutzt werden können (ob dies bewusst, unbewusst oder aus Dummheit geschieht, ist eigentlich gleichgültig).

b) Essen, zumal das gemeinsame Essen, ist ja auch immer ein kultureller Akt. Kaum etwas ist so sehr mit kulturellen Versatzstücken versehen, wie eine Mahlzeit. Wenn das einem genommen wird und Essen nur noch Zweck des Überlebens ist, wird uns auch ein Teil der Identität, der Lebensfreude, schlichtweg ein gewaltiges Stück von dem, was das Leben lebenswert macht.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.04.22 um 17:25:
Hallo Trekan, ich danke dir besonders für den Hinweis, dass Hungersnöte auch die Kulturgeschichte des Essens zerstören.

 Terminator (20.04.22, 01:54)
Deutschland erholte sich übrigens nach dem Krieg schneller vom Hunger als England, wo Lebensmittelknappheit noch bis zum Ende der 40-er sich unter anderem auch auf die Single-Malt-Produktion auswirkte (Malt Whiskies werden aus Gerste hergestellt).

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 20.04.22 um 17:31:
Gracias, das stimmt. Mit Blick auf den höheren Lebensstandard in Deutschland in den Fünfziger Jahren versicherten sich alte Nazis grinsend, eigentlich hätten sie den Krieg doch gewonnen.
Taina (39)
(20.04.22, 09:49)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 20.04.22 um 18:22:
Hallo Taina,
die Bauern gaben von dem ab, was sie sonst verfüttert hatten. Das kann meine Frau, die als Flüchtling bei einem Bauern wohnte, aus eigener Anschauung bestätigen. Dieser Bauer wollte es gar nicht, weil er es als demütigend für den Nehmer empfand.  Dessen Not war aber so groß, dass er den Bauern inständig darum bat. Der seinerseits gerührt spendete zusätzlich normale Lebensmittel.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (20.04.22, 17:37)
Sehr lesenswert. Vieles erinnert mich an eigene Erlebnisse. Mein Vater entließ sich als Zahlmeister selber und arbeitete kurze Zeit später wieder als Beamter. LG

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 20.04.22 um 18:25:
Merci, Armin. Wir hatten beide mit unseren Vätern Glück. Ich hatte nach dem Kriege Freunde ohne Vater.
LG
Ekki

 Graeculus (20.04.22, 18:30)
Solche Erinnerungen lenken den Blick auf die Zeit nach dem Krieg. Die werden ja auch für die Ukraine kommen. Hoffentlich hilft man ihr dann ebenso mit Lebensmitteln wie jetzt mit Waffen.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 20.04.22 um 20:21:
Merci, Graeculus. Mir scheint die Hilfsbereitschaft der Deutschen gegenüber Ukrainern ungebrochen groß, obwohl ich mir manchmal wünschte, dass zwei ihrer Offiziellen auch mal das Wort "bitte" benutzen würden.
Taina (39) meinte dazu am 20.04.22 um 21:38:
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 AchterZwerg (20.04.22, 18:32)
Lieber Ekki,

später gabs die Care-Pakete, an die ich mich noch gut erinnere.
Die waren auch für mich eine große, weihnachtliche Bescherung.
Insbesondere die Schokolade, der Kakao und das Milchpulver, die zu einem dicken Brei vermengt wurden ...

Deswegen habe ich mir bis heute etwas bis viel Liebe für die Yanks bewahrt; derlei vergisst man halt nie!

Herzlichst
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.04.22 um 20:28:
Ja, Piccola, auch meine Familie empfing dankbar die Pakete.
Wie köstlich schmeckten mir damals Erdnüsse. Ich kannte so etwas nicht.
Eigentlich sind fast alle Völker der Welt liebenswert. Nicht immer haben sie missratene "Führer" gewählt.

Herzlichst
Ekki

 GastIltis (20.04.22, 19:34)
Hallo Ekki,
du hattest gebeten, dass ich auch aus der Zeit berichten sollte, um ein wenig vergleichen zu können. Das ist insofern schwer, da meine Erinnerung mit dem Kriegsende einsetzt, und wir (meine Mutter, meine Schwester und ich) bei unseren Großeltern in meinem Geburtsort und -haus das Kriegsende verbrachten. Kurz zuvor war meine Oma verstorben, an die ich genauso keine Erinnerung habe wie an meinen Vater, der die letzten zwei oder drei Jahre noch eingezogen worden war und 45 in Gefangenschaft bei Kiew verstarb.
Wir wohnten im Haus unseres Großvaters, das genau gegenüber vom dörflichen Bahnhof steht. (Damals: Bahnhofstraße, heute: Am Bahndamm). Unser Nachbar Schulz war ein liebenswerter alter Eisenbahner, daneben befand sich die Molkerei. Auf der anderen Seite war ein Sägewerk. Zwischen unserem Haus und dem Bahnhofsgelände war ein großer Holzplatz, auf dem zwei Holzarbeiter mit Handsägen die Stämme auf Längen so um die vier Meter sägten und zum Abtransport aufstapelten. Das waren ideale Verstecke, die von den Kindern des Dorfes gern aufgesucht wurden. Auch von den Mädchen, was mich im Prinzip mehr als angeregt hat. Ich weiß es nicht, wie alt ich genau war, aber als ich noch keine sechs war, sind wir weg gezogen. Davor hatte ich mir bei einem Sprung von einem Schuppendach den linken Arm zweimal gebrochen. Der Transport ins Krankenhaus Gardelegen (12 km überwiegend zu Fuß) ist mir noch als eine Qual im Gedächtnis haften geblieben, wie ich sie nie wieder erlebt habe. Auf jeden Fall hatte ich den Gipsarm noch beim Umzug in das Haus meiner Eltern in die Nähe von Bitterfeld, wo ich nun meine Schul- und Lehrjahre verbringen durfte. Aber die Einschulung konnte ich schon, dünn und halb verhungert, kaum sichtbar hinter meiner fast leeren Zuckertüte, ohne Gips wahrnehmen.
Sei herzlich gegrüßt von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.04.22 um 20:33:
Vielen Dank, dass du den Ball aufgenommen hast, Gil. Dein Einstieg mit eigenen Berichten berührt mich sehr.
Herzliche Grüße
Ekki

 plotzn (21.04.22, 18:26)
Lieber Ekki,

vor solch einem Hintergrund erscheint mir viel heutiges Gejammer eines auf hohem Niveau (und trotzdem nicht immer niveauvoll) zu sein.
Ich hoffe, dass möglichst vielen Menschen Deine Erfahrungen erspart bleiben...

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.04.22 um 19:12:
Merci, Stefan, die harten Erfahrungen  1945 haben sich später ausgezahlt, denn die kargen Jahre meines Studiums erschienen mir vergleichsweise immer noch viel.besser.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (21.04.22, 19:08)
lieber ekki,
dein lesenswerter 'hunger'-beitrag erinnert mich daran,
dass mit dem roman 'hunger' einst hamsuns schreiblaufbahn begann!
lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.04.22 um 19:18:
Merci, Henning, so ist es. An den habe auch ich während der Niederschrift gedacht.
LG
Ekki

 TassoTuwas (24.04.22, 10:36)
Hallo Ekki,
du schilderst gut vorstellbar die knappe Versorgungslage der ersten Nachkriegsjahre. Aber es gab auch immer Unterschiede, die was zu Tauschen hatten, die schnell wieder Beschäftigung fanden oder auf dem Schwarzmarkt handelten.
Vielleicht sagte damals eine kleine "Marie Antoinette", "Wenn die Leute nichts zu essen haben, dann sollen sie was beim Bring-Service bestellen"
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 20:06:
Merci, Tasso, da hast du natürlich recht. Nach jedem Krieg gibt es Gewinnler, die keine Not leiden.
Herzliche Grüße
Ekki
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