Die güldne Sonne

Gedicht zum Thema Misshandlung

von  EkkehartMittelberg

Die Prügelstrafe stand in den deutschen Schulen auf der Tagesordnung, und kaum jemand stellte sie in Frage. Ich habe als Lehrer selbst Anfang der 70er Jahre noch erlebt, dass Eltern mich aufforderten, dem Sohnemann ein paar hinter die Löffel zu geben, wenn er nicht pariere.

Damals gab es Schulstunden, in denen die Angst wie eine riesige Spinne an der Decke des Klassenraums hing und wir die Köpfe einzogen, damit sie uns nicht in den Nacken fiel.
Wir erhielten einen neuen Lehrer in Mathematik, den wir nach der Begrüßung mit einem aufgeregten, erwartungsvollen Tuscheln empfingen. Das war schon zu viel. Er meinte gleich zeigen zu müssen, wer der Herr im Hause ist, und donnerte los: „Ich habe Hände wie Abortdeckel. Wo die hinhauen, da wächst kein Gras mehr!“ Einer meiner Mitschüler konnte bei dieser grotesken Drohung nicht an sich halten und lachte glucksend in sich hinein, wohl weil er sich die Hände bildlich vorstellte.
„Steh auf!“ brüllte ihn der Pädagoge an.  Kaum stand der lange Schlacks vor ihm, da wurde er auch schon mit ein paar schallenden Ohrfeigen wieder in die Bank zurück geprügelt. Solche Szenen wiederholten sich öfter bei relativ nichtigen Anlässen.

Aber es gab da ein seltsames Gegengewicht, das für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde.
Dieser Lehrer unterrichtete auch Musik, und wenigstens das sei positiv vermerkt: Er brachte uns wunderschöne Lieder bei, u.a. auch einige von dem Barock-Dichter Paul Gerhardt (1607-1676). Vielleicht kennen ja einige auch heute noch den Text von „Geh aus mein Herz und suche Freud“ oder von „O Haupt, voll Blut und Wunden“.
An einem Tage, als er mal wieder zugeschlagen hatte und ich tief verängstigt und traurig war, machte er uns mit Gerhardts Lied „ Die güldne Sonne“ vertraut .
Hier ist der Text der ersten Strophe, den wir am Ende der Stunde sangen:

Die güldne Sonne

Die güldne Sonne, voll Freud und Wonne
Bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen
Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder;
Aber nun steh ich, bin munter und fröhlich,
Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

Ich fühlte mich durch den Text und durch die schlichte Kraft der Melodie wunderbar getröstet, richtet mich wieder auf und meine Beklemmung verflog, jedenfalls für diesen Tag.

März 2014




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Kommentare zu diesem Text

Jarina (33)
(10.01.23, 05:14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 11:19:
Merci, Jarina, so ging es mir damals und so geht es mir heute noch, wenn ich daran zurückdenke.

Liebe Grüße
Ekki

 Aron Manfeld antwortete darauf am 10.01.23 um 16:47:
Naja ... Mir fehlt hier die eigene Positionierung.

Ich glaube nicht, dass Du Dich an schönen Worten so hochziehen kannst, wie Du es uns hier verkaufen willst, mein Lieber.
Jarina (33) schrieb daraufhin am 10.01.23 um 19:47:
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 10.01.23 um 20:42:
Ach, Aron, glaube, was du willst.  Ich war noch ein Kind und die Worte von Paul Gerhard, die mich damals getröstet haben, finde ich heute noch wunderschön.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.01.23 um 20:47:
@jarina: Die Verse von Paul Gerhard haben mich dermaßen gestärkt, dass ich eine Zeitlang gar nicht mehr über den Schläger nachgedacht habe.
Dennoch hat das Stockholm-Syndrom bei mir verfangen

 uwesch (10.01.23, 08:46)
Ich habe da auch so meine "Erlebnisse". Unser Sport- und Erdkundelehrer war einer der schlagenden Sorte. Selbst Handballweltmeister zu seiner Zeit schlug er uns Schüler bei geringem Fehlverhalten nach seiner Meinung. Man mußte mit ihm vor die Klassenzimmertür, er knallte dem Betroffenen eine saftige Ohrfeige links und eine rechts und man kam mit hochroten Wangen zurück ins Klassenzimmer. Es herrschte deshalb in seinen Stunden meist gnadenlose Ruhe.
LG Uwe

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 11:25:
Gracias, Uwe, dieses Schlagen war unheimlich. Aber noch beklemmender war, dass damals niemand dagegen aufbegehrte, weder Eltern noch Kultusministerien. Oder hat es an deiner Schule Versuche des Protests gegeben?

 AchterZwerg (10.01.23, 09:20)
Lieber Ekki,
bei uns, der Folgegeneration, wurden fast "nur" noch die Kinder der italienischen Gastarbeiter geschlagen. "Die wollten es ja nicht anders!"
Warum konnten die auch kein anständiges Deutsch sprechen, so wie wir ...

Leicht zynische Grüße
Piccola

(Gut, dass du dann selbst Lehrer geworden bist, Ekki!)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 11:31:
Liebe Piccola,
diese Erfahrung mit den Kindern der Gastarbeiter musste ich nicht machen, weil ich studierte. Strafte man sie besonders, weil man von deren Eltern keinen Protest erwartete?

 Saira (10.01.23, 09:42)
Guten Morgen Ekki,
 
ich hatte auch noch einen Lehrer der alten Schule, der zur Strafe den Stock einsetzte.  Seine gute Seite war, dass er jeden Tag mehrere dick belegte Pausenbrote dabeihatte und sie an sozial Schwache verschenkte, indem er kurz vor der Pause einfache Rechenaufgaben stellte, die dann natürlich nur die Hungrigen lösten. Ich hatte das Gefühl, die meisten Eltern waren ihm dankbar für seine Erziehungsmaßnahmen.
 
Liebe Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 11:45:
Vielen Dank, Sigi, das war das Fatale in den 50er und 60er Jahren, dass die im Nationalsozialismus sozialisierten Eltern in der Regel die Prügelstrafe nicht nur billigten, sondern sie zum Teil auf Elternsprechtagen sogar einforderten.
So kam es, dass in dieser Zeit auch Lehrer guten Gewissens schlugen, die keine Sadisten waren.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (10.01.23, 11:17)
solche schlägertypen wurden oft uralt
doch der tod machte vor denen auch nicht halt -
las ich davon hat mich das stets gefreut
wie kürzlich in der zeitung erst erneut!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 11:52:
Gracias,Henning,

du erinnerst mich daran, dass diese Prügelei bei uns Kindern zu unfruchtbaren Rachegedanken führte. Wir wehrten uns gegen die Übermacht der Schläger, indem wir ihnen bissige Spitznamen verliehen.

LG
Ekki

 Solvy (10.01.23, 11:48)
Es ist gut und richtig, dass das Schlagen verboten wurde, aber leider musste ich dann erleben, welche andere Formen seelischer Grausamkeit sich Lehrer zur Strafe ausgedacht haben (z. B. so lange vor der Wand stehen (ohne sie berühren zu dürfen, bis man nicht mehr kann) - ob das immer besser war/ist, wage ich zu bezweifeln.
Schön wäre es doch, wenn die Lehrer den Schülern mit Respekt begegnen und vom Ansatz her sie fördern wollen und sie in ihrer Persönlichkeit stärken, und nicht zerbrechen. Ich denke, dass sich viele junge Lehrer dies schon seit ein paar Jahrzehnten vornehmen, aber dann trotzdem manchmal scheitern ... schade.

Ein sehr berührender Text . Ich werde mal nach dem Lied suchen, weil mich die Melodie interessiert.

Liebe Grüße
Solvy

 Solvy meinte dazu am 10.01.23 um 12:03:
Falls es jemanden interessiert . der Link zum vollständigen Lied  https://www.youtube.com/watch?v=ZfUUQ3XAPUw
 LG
Solvy

Antwort geändert am 10.01.2023 um 12:03 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 12:07:
Liebe Solvy,

ich habe noch viele Kontakte auch zu jungen Kollegen und Kolleginnen und kann dich trösten, weil sie die Formen seelischer Grausamkeit reflektieren und sie stark zurückgehen. Freilich gibt es auch grausame SchülerInnen, die Lehrkräften äußerste Disziplin abverlangen, dass sie nicht mit diesen Mitteln reagieren.
Wahrscheinlich werden dich die erwähnten Lieder von Paul Gerhard zutiefst rühren so wie mich.
Liebe Grüße
Ekki

 Solvy meinte dazu am 10.01.23 um 12:20:
Danke Ekki, für diesen Trost. Und ich weiß natürlich, auch aus eigener Erfahrung, dass es diese Schüler gibt - habe ich auch schon in den Achtzigern erlebt und mich immer gefragt, was meine Mitschüler davon haben, andere Menschen (ob nun Lehrer oder Schüler) so zu demütigen. Und als ich selbst in einem Referendariat vor einer Berufsschulklasse stand, merkte ich, wie schwer es ist, trotz aller Beschäftigung mit Pädagogik, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.01.23 um 13:20:
Hallo Solvy,
ich habe nir gerade die Vertonung von "Die güldne Sonne" angehört. Sie ist sehr schön.

 TrekanBelluvitsh (10.01.23, 14:29)
Dem Schluss kann ich gar nicht zustimmen. Mir kommt das zynisch vor.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 16:48:
Ich bin ein bisschen irritiert, Trekan. Meinst du, dass ich mich durch den Text von "Die güldne Sonne getröstet fühlte? Weshalb soll das zynisch sein?

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 10.01.23 um 20:08:
Nein. Ich finde den Lehrer in diesem Fall besonders zynisch. Erst prügelnd durch die Klasse gehen und dann versuchen, derselben Hochkultur zu vermitteln.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.01.23 um 22:05:
Ja, objektiv betrachtet ist das zynisch. Aber dieser Brutalo war sich dessen nicht bewusst.

 GastIltis (10.01.23, 14:48)
Hallo Ekki,
obwohl über die Erziehung in der Zeit der DDR in späterer Zeit viel Unfug verbreitet worden ist, von Erziehungsheimen, Zwangsadoptionen usw., gab es, zumindest in der Schule, wo ich unterrichtet worden bin, absolut keinerlei Formen von körperlichen Strafen. Und das, obwohl es immer Schüler gab, die in Fragen Disziplin nicht gerade positiv herausragend waren. Ab der fünften Klasse, muss ich leider bekennen, gehörte ich auch dazu. Das lag aber in den meisten Fällen daran, dass wir es mit Lehrerinnen zu tun hatten, denen es nicht so leicht fiel, mit aufmüpfigen Jungen fertig zu werden. Bei Lehrern sah das immer anders aus. Da war schon eine gewisse natürliche Autorität vorhanden. Und als Schüler machte das Lernen mehr Freude.
Von meinem Großvater (1881 -1957) mütterlicherseits weiß ich, dass er mit seinen Lehrern auch riesige Probleme gehabt haben muss. Ein Lehrer hat ihn mal mit zu sich nach Hause genommen und in den Keller gesperrt. Dass mein Großvater sich in dessen Gurkenkruken hinein entwässert hat, hat der Lehrer möglicherweise gar nicht mitbekommen.
Übrigens waren wir Jungen so ab der siebten Klasse auch sehr begeisterte Sänger. Ich erinnere mich noch gern an das (sowjetische Kampf-)Lied „Nichts hält uns auf zu Wasser und zu Lande,“ Ach so, beinahe hätte ich es vergessen, unser Musiklehrer war ein ehemaliger Thomaner! So unterschiedlich waren doch die Systeme!
Liebe Grüße von Gil.

Kommentar geändert am 10.01.2023 um 14:49 Uhr
Taina (39) meinte dazu am 10.01.23 um 14:56:
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 GastIltis meinte dazu am 10.01.23 um 16:33:
Hör mal Taina, es mag ja sein, dass du und andere es sehr lieben, sich an Kommentare zu bestimmten Beiträgen anzuhängen. Meine Art ist es nicht. Der Beitrag, zu dem ich einen Kommentar abgegeben habe, ist von Ekki, den ich überaus schätze. Wenn Ekki Fragen dazu hat, werde ich sie gern beantworten. Wenn du von mir etwas wissen möchtest, kannst du mir gern eine persönliche Nachricht zukommen lassen. Aber um eines klar zu stellen, ich habe in der DDR gelebt, bin nie in einer Partei gewesen, habe meine Stasi-Akte eingesehen, in der nur dummes Zeug steht, bin nie zu Zwangsarbeiten herangezogen worden oder ähnlichen Dingen, habe während des Studiums im Herbst jährlich drei Wochen Kartoffeln gelesen, habe übrigens auch einen Beruf, habe das Abitur gemacht und fünfeinhalb Jahre lang studiert. Ich war weder in der Kampfgruppe noch in der GST, weil ich mich entweder kulturell oder sportlich oder in der Freiwilligen Feuerwehr betätigt habe. Allerdings musste ich sogar vier Wochen in der Nationalen Volksarmee eine Grundausbildung absolvieren. Danach habe ich 120 Pfund gewogen. So, das sollte zu meiner Zeit in der DDR reichen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 16:57:
Vielen Dank, Gil, ich kann mir gut vorstellen, dass es bezüglich des Schlagens einen Unterschied der Systeme gab..
Ich vermute, dass man es in der DDR für eine verwerfliche Tradition aus dem Nationalsozialismus hielt.
Herzliche Grüße
Ekki
Teolein (70)
(10.01.23, 16:46)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 17:10:
Gracias, Teo. Gott sei Dank wurde das Schlagen ab Beginn der 60er Jahre allgemein geächtet. Ich räume freilich ein, dass man sich als Lehrer manchmal sehr zusammenreißen musste, denn es gab Fälle von renitenten SchülerInnen, die nicht einmal mit Humor und Witz zu beschämen waren.
Liebe Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (10.01.23, 18:52)
Hallo Ekki,

es ist eine verstörende Auffassung von Mathematik, aber bei dem Lehrer musste man mit allem rechnen. Eine lesenswerte Geschichte aus dem Leben.

Liebe Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 19:06:
Merci, Didi, das hast du sehr gut ausgedrückt.
Agnete (66)
(10.01.23, 20:21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 20:36:
Vielen Dank, Monika, mich hat es damals schon sehr getröstet, dass dieser Barbar uns die schönen Verse singen ließ.
Ja, leider gibt es immer noch Gewalt in den Elternstuben. Aber diese Eltern wagen es nicht mehr. LehrerInnen aufzufordern, ihre Kinder zu schlagen.
Liebe Grüße
Ekki

 AlmaMarieSchneider (10.01.23, 23:37)
Wir haben dieses Lied auch gesungen. Die Prügel waren damals wirklich das Erziehungsmittel. Mädchen kamen oft etwas besser weg. Allerdings hat meine Freundin durch eine Ohrfeige ihr Gehör einseitig lebenslang verloren. Ihr war ihr Taschentuch runter gefallen.

Liebe Grüße
Alma Marie

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.23 um 23:57:
Liebe Alma Marie,
fürchterlich. Dem Schläger, von dem ich berichtet habe, wurde so etwas nicht zum Verhängnis. Im Gegenteil , er wurde sogar Schulleiter.
Das Schicksal ist selten gerecht..

Liebe Grüße
Ekki

 TassoTuwas (11.01.23, 13:21)
Hallo Ekki,

wenn das neue Schuljahr mit neuem Stundenplan begann ging das große Bangen um. Einige Lehrer waren gefürchtet und wenn man nur einen davon bekam war man schon froh.
Als dieser Spuk vorbei war, kam der nächste, junge dynamische Typen, die sich der Klasse mit einem "Hallo Leute, ich bin der Martin" vorstellten. 
Und gerade aktuell, Gewalttaten an den Schulen.
Schule war und bleibt ein gesellschaftliches Problem.

Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.01.23 um 18:27:
Merci, Tasso, richtig, man sollte das Ganze im Kontext sehen, denn mit diesen jungen dynamischen Typen war eine Klasse bestraft, auch ohne dass sie schlugen.

Herzliche Grüße
Ekki
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