Wie irrational ist so ein Streik

Kommentar zum Thema Entscheidung

von  eiskimo

Was in Frankreich jetzt im Zuge der Rentenreform abgeht, ist völlig irrational. So, wie ich es beobachten konnte, geht es längst nicht mehr um ein Sachproblem, sondern nur noch um die Wut auf den, der sich erdreistete, die Lebensarbeitszeit für die arbeitende Bevölkerung zu verlängern: Emanuel Macron. Seit Chirac hatten das übrigens alle Präsidenten vor ihm auch schon versucht, vergeblich. Dabei ist die demographische Entwicklung in Frankreich nicht anders als bei uns: Die Leute werden immer älter.

Macron hat nun das getan, was er in seinem Wahlprogramm auch angekündigt hatte. „La réforme des retraites“. Und zur Hass-Figur ist er schon dadurch geeignet, dass er jung ist, elitär und dass er meist etwas arrogant ´rüberkommt – der smarte “Golden Boy“, Zögling der Bourgeoisie.

Den so zum Volksfeind Nummer Eins hochstilisierten „Kante zu zeigen“, ihn endlich zum Rücktritt zu zwingen, ist die Triebfeder für ganz viele der Aktivisten. Frustration,Trotz, auch ein bisschen Klassenkampf –. jedenfalls, denke ich, ist das ganze inzwischen hochgradig irrational.

Ist die deutsche Version von Arbeitskampf, ist das, was wir kommenden Montag erleben werden, viel rationaler?

Nun, es wird keine brennenden Barrikaden geben, keine Straßenkämpfe mit der Polizei, nicht diese wilde Streik-Folklore. Es gibt auch keine gegen eine bestimmte Person fixierte Strategie.  Der „massive Warnstreik“ von Ver.di und der Eisenbahngewerkschaft EVG „erhöht lediglich den Druck“, damit die Arbeitgeber endlich „ein verhandlungsfähiges  Angebot“ vorlegen. Dezent formuliert.

Was ich mich frage: Ob man deswegen ein hoch komplexes, verkehrstechnisch eh schon überstrapaziertes Industrieland komplett lahm legen darf?  Von den Millionen Unbeteiligten, die man dabei in Geiselhaft nimmt und den Millionen-Beträgen, die der Volkswirtschaft verloren gehen, ganz zu schweigen.  

Nein, rational kann man diese Art Kräftemessen weiß Gott nicht nennen, zumal es ja nach 12 oder 24 Monaten rituell wiederkehrt, mit den gleichen Szenarien und den längst bekannten Sprüchen.

Rational wäre es in meinen Augen, derartige Konflikte nicht als inszeniertes Kampfspiel in und mit der Öffentlichkeit auszutragen, sondern als simples Zahlenproblem, das innerhalb eines Schiedsgerichtes zu lösen wäre.  Das Schiedsgericht müsste natürlich überparteilich und  unabhängig sein, darin säßen profilierte Leute, die sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberseite präzise kennen und die ermessen könnten, wieviel real in der Lohntüte bliebe bzw. wie eng es für die öffentliche Hand bzw. die Unternehmer mit Lohnerhöhungen würde.  Dem Urteil des Schiedsgerichts wäre Folge zu leisten. Punkt.

Keine Drohkulissen mehr, keine unversorgten Kleinkinder vor bestreikten Kitas, kein Verkehrskollaps und vorbei auch die albernen Umzüge mit Fähnchen und Trillerpfeifen-Konzert.

Konsens kann man auch am grünen Tisch herstellen.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (25.03.23, 18:30)
Ich habe nie verstanden, wie man in dem Dreieck von steigender Lebenserwartung (--> längerer Rentenzeit), sinkender Zahl von Jüngeren (--> weniger Berufstätige, die in die Rentenversicherung einzahlen) und Höhe der Rentenbeiträge klarkommen könnte, ohne an einer dieser Stellen (Renteneintrittsalter, Rentenhöhe, Kinderzahl oder Versicherungsbeitrag) eine unangehme Entscheidung zu treffen.

Dabei weiß ich allerdings nicht, ob es auch in Frankreich einen Generationenvertrag gibt, d.h. daß die jeweils Berufstätigen die Renten der Älteren finanzieren.

Kommentar geändert am 25.03.2023 um 18:34 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 25.03.23 um 18:57:
Hat es eigentlich in Frankreich, das doch auf seine Tradition in rationalem Denken stolz ist, schonmal eine ruhige, sachliche Diskussion gegeben, wie sich die Kontrahenten die Finanzierung des Rentensystems angesichts steigender Lebenserwartung denken?

***

In Deutschland geht es ja aktuell um etwas ganz anderes: Wie die Leute mit der Inflation zurechtkommen sollen. Daß höhere Löhne die Inflation ihrerseits anheizen, weil diese im Verhältnis von Geld- zu Warenmenge ihre Ursache hat, ist auch nicht ganz neu. Auch da wünsche ich mir eine rationale Diskussion der Konfliktparteien. Ein illusorischer Wunsch, fürchte ich.

 eiskimo antwortete darauf am 25.03.23 um 19:01:
In der Neuen Zürcher Zeitung fand ich  zuletzt eine gute Übersicht, wie sich in Frankreich die Renten zusammensetzen:
Wie in der Schweiz beruht auch das französische Rentensystem auf drei Säulen: Es gibt die Grundrente, die berufliche Vorsorge (Zusatzrente) und die private Vorsorge. Grundrenten und Zusatzrenten werden durch das Umlageverfahren finanziert. Was die arbeitende Bevölkerung also einzahlt, wird sogleich an die Rentner ausbezahlt. Das Spezielle an Frankreich: Viele Berufsgruppen haben ihre eigenen Rentenkassen. Im Schnitt erhielten Französinnen und Franzosen 2020 rund 1600 Euro Rente brutto – alle Beträge aus allen Kassen zusammengerechnet. Das scheint nicht üppig, ist aber im Verhältnis zu dem, was die arbeitende Bevölkerung verdient, relativ grosszügig. Der Mindestlohn zum Beispiel liegt bei 1700 Euro brutto. In der Privatwirtschaft liegt das Durchschnittseinkommen bei 2500 Euro netto.
1. Die Grundrente («régime de base»)
  • Sie soll rund 50% des Durchschnittseinkommens ersetzen. Mittels eines relativ komplizierten Berechnungsschlüssels wird für jede Neurentnerin, jeden Neurentner eine maximale individuelle Rente berechnet. Der Staat garantiert derzeit eine Mindestrente von 1100 Euro brutto. Maximal werden 1800 Euro ausbezahlt.
  • Anrecht auf seine maximale Grundrente hat, wer das offizielle Rentenalter von derzeit 62 Jahren erreicht und zusätzlich mindestens 41,5 Jahre lang Rentenbeiträge einbezahlt hat. Wer früher gehen will, kann das, allerdings mit Einbussen. Wer bis 67 Jahre arbeitet, bekommt die individuelle Maximalrente, egal, wie viele Jahre lang Beträge einbezahlt worden sind. Französinnen und Franzosen liessen sich 2020 im Schnitt mit 62 Jahren und vier Monaten pensionieren.
2. Zusatzrente («retraite complémentaire»)
  • Die berufliche Vorsorge soll den Lebensstandard garantieren. Sie ist erst seit den 1970er Jahren obligatorisch. Frauen haben 2021 im Schnitt rund 300 Euro aus der Zusatzkasse erhalten, Männer mehr als das Doppelte. Das hat damit zu tun, dass Kaderpersonen und Angestellte mit hohem Einkommen mehr in die Zusatzkasse einbezahlt haben und nach der Pensionierung auch mehr erhalten. Das Ungleichgewicht spiegelt also das frühere ungleiche Einkommen zwischen Männern und Frauen. 
3. Private Vorsorge («retraite supplémentaire»):
  • Das gebundene Vorsorgesparen, in der Schweiz die dritte Säule, ist auch in Frankreich freiwillig. Erst in den letzten Jahren hat der Gesetzgeber Möglichkeiten und vor allem Anreize geschaffen, dass Französinnen und Franzosen auf eigene Initiative hin Geld auf die Seite legen. Verbreitet ist das noch nicht. Die Rentenleistungen aus der privaten Vorsorge machen in Frankreich erst drei Prozent der gesamten Rentenleistungen aus.
  • 19.2.2023

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 25.03.23 um 19:09:
Kennst du die Mieten in Frankreich? Google mal. Wenn du eine anständige Wohnung unter 1000 Euro findest, gib mir Bescheid. Und die Alten schmeißen sie raus, weil sie teuer sind, das ist in jedem Land ein Fakt, was zur Altersarmut führt. Man kann sich natürlich als Pensionär Gedanken machen, über kommende Pensionen, selbst ist man abgesichert. Mit 46 hat man schon Probleme, jetzt stell dir vor, ein 60 jähriger verliert seinen Job. Ich stelle das in den Raum.

 eiskimo äußerte darauf am 25.03.23 um 19:18:
Und zu Deutschland: Da könnte ich mir auch eher die vorgeschlagenen Schiedsgerichte vorstellen, wir haben hier, denke ich, eine größere Konsens-Mentalität.
Die Gerichte müssten dann auch diffenrenzieren zwischen Knochenjobs in Krankenhaus oder Pflegeheim und weniger  Kräfte fordernden Bürojobs.

 Graeculus ergänzte dazu am 25.03.23 um 19:20:
Wie man mit diesem französischen Mischsystem auf die demographische Entwicklung (so nennt man das ja) reagieren kann, darüber müßte ich nachdenken. Aber reagieren muß man darauf!

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.03.23 um 19:24:
Frankreich liegt ganz vorne mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit von 17,4%, da muss etwas getan werden und die Alten in Ruhe normal mit 60-63 in Pension geschickt werden. Ich verstehe die Unruhen, wenngleich ich Gewalt verabscheue, es geht an die Existenz.

 eiskimo meinte dazu am 25.03.23 um 19:39:
@Mondscheinsonate
Ich habe mal bei "Se Loger" nachgeschaut. Durchschnittspreis pro Quadratmeter ab 10€ (Champagne-Ardennes, Franche-Comté, Auvergne) über 13-16 (Rhône-Alpes, Aquitaine, Côte d´Azur) bis 23 (Paris, Ile de France).
Ob das immer anständige Wohnungen sind, weiß ich nicht.
Übrigens haben ca. 65 Prozent der Franzosen eine eigene Wohnung bzw. ein Haus

 Graeculus meinte dazu am 25.03.23 um 19:39:
Mondscheinsonate, Du machst Politik mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf. Nichts gegen das Herz und seine berechtigten Anliegen, aber die Lösungen kommen aus dem Kopf.

 Graeculus meinte dazu am 25.03.23 um 19:43:
An eiskimo:

Kurz durchgerechnet: 60 m² in Paris kosten dann also 1380 Euro. Kalt? Warm? Wie auch immer, mit den von Dir genannten Renten dürfte das Wohnen in Paris illusorisch sein. (Ohne den Zusatz, daß 65 % der Franzosen Wohneigentum haben. Die Arbeitslosen wohl eher nicht.)

Antwort geändert am 25.03.2023 um 19:45 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.03.23 um 19:50:
Nein, mache ich nicht, ich bin in so einer Situation und die find ich nicht schön. Man muss, nochmals, die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff bekommen, die finanzieren die Alten. Jetzt bringen sie das nicht in den Griff und verlangen, dass die Alten das Problem lösen. Nach 40-45 Jahren Arbeit, ganz toll. Das ist unlogisch. Ein Junger hat viel mehr Energie und Kraft oder möchtest du mit 70 noch in der Industrie arbeiten?

Antwort geändert am 25.03.2023 um 19:52 Uhr

 eiskimo meinte dazu am 25.03.23 um 19:58:
Stichwort Jugendarbeitslosigkeit. 17,4 %, das ist ein Desaster. Aber was brauchst du, um Jugendliche in Arbeit zu bringen? Unternehmen, die in Frankreich investieren.
Würdest Du in Frankreich investieren? Mit den Streiks, die da immer wieder losgetreten werden,mit blockierten Raffinerien, LKW-Blockaden, Gelbwesten? Die CGT-Gewerkschaft geht richtig zur Sache, dagegen ist Ver.di ein Knabenchor.
Wobei ich diesen Staat nicht schönreden will. Da gibt es en Haufen dicker Probleme. Umso mehr wäre rationales Vorgehen wichtig.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.03.23 um 20:03:
Du, das ist eine Katastrophe. Frankreich gehört zu den größten Industrienationen, desweitern ist der Dienstleistungssektor sehr hoch. Es wird alles moderner und schneller, da gehören neue, angepasste Bildungsoffensiven, die Aufwertung der Lehre, viel in der Integration getan. Da gibt es so viele Aufgaben und die Erhöhung des Pensionsalters ist kontraproduktiv, besonders im Industriesektor. Die Alten (ich meine das nie abwertend) umzuschulen geht in die Millionen, das zahlt sich gar nicht mehr aus, ganz nüchtern betrachtet, aber Millionen in Junge zu stecken, sehr wohl.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.03.23 um 20:53:
Ich möchte einen Nachtrag setzen zu den Mieten. Die Durchschnittsmiete in Paris ist 21,22, bei 50qm² sind das 1061 Euro. Ich habe mich damit bereits intensiv aus Liebe zu dieser Stadt auseinandergesetzt. Im Grunde, bei einer versprochenen Mindestpension von 1200 Euro, ein Hohn. Dafür zwei Jahre länger arbeiten. Hinzu kommen die Energiekosten und sonstigen Fixkosten. Daher meine ich, dass bereits die Jungen gestärkt werden müssen, damit sie sich das Alter überhaupt leisten können.
Schimmel (60)
(25.03.23, 20:56)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.03.23 um 20:58:
Das war bei uns auch letztes Jahr, der Skandal.
Schimmel (60) meinte dazu am 25.03.23 um 21:16:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 00:08:
@Schimmel

Zur Richtigstellung:  Es wird nicht nur die Deutsche Bahn bestreikt, sondern zeitgleich der ÖPNV, der Flugverkehr und sogar die Binnenschifffahrt. Auswirkungen schon ab Sonntag Abend und auch deutlich über den Montag hinaus.
Und von "der Panik der Deutschen" zu sprechen,  das trifft es auch nicht. Wir hatten ja schon ein paar Warnstreiks und konnten das freie Improvisieren üben.

 Graeculus meinte dazu am 26.03.23 um 00:59:
Und dabei ist jeder Arbeitnehmer - Streik hin, Streik her - verpflichtet, an seinem Arbeitspltz zu erscheinen, ebenso jeder Schüler in der Schule.
Schimmel (60) meinte dazu am 26.03.23 um 14:13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 14:55:
In Köln steht alles still, und ich kenne Leute, die sind echt angepisst. So, wie das Wetter angesagt ist, wird auch das Radfahren keine Freude sein.
Die 380 000 Passagiere, die  umbuchen müssen, finden das sicher auch nicht witzig. Versuche mal an so Tagen,  deine Airline anzuwählen.
Schimmel (60) meinte dazu am 26.03.23 um 22:31:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 23:23:
Was soll denn diese Logik?
Nur eine Idee: Kleb dich auf eine Straßenkreuzung, und wenn die aufgebrachten Autofahrer auf dich einstürzen, dann rezitierst du ihnen deinen Text hier.
Und vergiss nicht zu lachen!
Schimmel (60) meinte dazu am 28.03.23 um 09:46:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo meinte dazu am 28.03.23 um 11:24:
Mit der Dialektik kann man sich jeglichen Missstand und alle erdenklichen Leiden klein reden, es gibt immer das Problem, das noch gravierender ist und die Not, die noch  länger anhält.
Menschen erleben ihren Ärger aber unmittelbar, nicht in irgendeinem Vergleich.  Darum das Klebe-Beispiel.
Wenn ich mit der Replik aggressiv wirkte, tut mir das Leid.

 Tula (26.03.23, 00:34)
Hallo in die Runde
Ich denke, nicht der Streik ist irrational, sondern die Tatsache, dass die politischen Kräfte, die gegen die Reform sind, keine sinnvolle Alternative anbieten. 'Sinnvoll' im banal-mathematischen Sinne, irgendwo muss das Geld für steigende Ausgaben herkommen. Völlig irrational wird es, wenn sich Ausländerfeindlichkeit als Argument dazugesellt. Denn ohne Verjüngung der demografischen Struktur wird die Zukunft in Sachen Rente noch bedenklicher.

Am besten ein Volksentscheid. Was wollt ihr:
A - länger arbeiten
B - noch mehr Steuern zahlen
C - die staatliche Pleite

LG
Tula

 Graeculus meinte dazu am 26.03.23 um 01:00:
In diese Richtung gehen auch meine Gedanken.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 07:56:
Mal auf das aktuelle Klima in Frankreich bezogen: Sie würden für C, die staatliche Pleite votieren.
Schon, weil ja die vorgelegten Zahlen nicht stimmen, weil der Staat schließlich mehr Schulden machen könnte, und falls die Reform tatächlich zu teuer würde, müsste man das Geld einfach bei den Reichen holen.

 Fridolin meinte dazu am 26.03.23 um 08:25:
Meine Gedanken gehen eher in Richtung Mondscheinsonate.
Ist es nicht so, dass wir nicht nur einen Alterszuwachs, sondern auch einen Reichtumszuwachs haben, mit dem auch die Rentenbeiträge wachsen? Jedenfalls wachsen müssten, wenn auch die Einkommen der Rentenbeitragszahler in gleichem Maße wachsen würden? Leider landet  dieser Reichtumszuwachs in der neoliberalen Ära vorwiegend da, wo eh schon so viel ist, dass man sich um die Altersversorgung keine Gedanken mehr machen muss.

Und was mich auch immer wieder madig macht, ist die Tatsache, dass die Strreiks hauptsächlich den Streikenden angelastet werden und nicht der Gegenseite, die doch genauso hinter dem Geld her ist und mindestens in gleichem Maße verantwortlich für den Konflikt ist.

Antwort geändert am 26.03.2023 um 08:27 Uhr

 AchterZwerg (26.03.23, 08:18)
Hallo Eiskimo,

wenn ich recht informiert bin, verfügen 10 % der Franzosen über weit mehr als 25 % des französischen Gesamteinkommens.
In Deutschland gibt es ebenfalls eine sich auseinanderdividierende Einkommensschere.
Die Reallöhne sinken permanent.

Und da wundert du dich über "irrationale" Streiks? Siehst die ultrabiedere VERDI offenbar gar als Speerspitze einer befürchteten Revolution?  

Jessesnaa

 Fridolin meinte dazu am 26.03.23 um 08:44:
Und was diesen Volksentscheid betrifft:
Demnach soll das Volk entscheiden, ob es lieber an Pest oder an Cholera sterben will?
Wobei B durchaus reizvoll sein könnte, wenn da differnziert würde, von welcher Art von Steuern die Rede ist.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 09:11:
Ich habe weiter oben von den "dicken Problemen" in Frankreich gesprochen und ich habe auch nicht die Anliegen der Streikenden in Frage gestellt, sondern ich plädiere - da wiederhole ich mich gerne - für eine rationalere Vorgehensweise.
Die Themen sind hochkomplex; die Wirtschaft in einem Land am Laufen zu halten und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit zu schaffen, verlangt ein hohes Maß an Kooperation und Sachverstand.
Ob "die Wut der Straße" da ein guter Ratgeber ist, darüber werden wir unterschiedlicher Meinung sein.

 Tula meinte dazu am 26.03.23 um 09:17:
Moin
die Alternative ist die Erhöhung der Rentenbeiträge bzw. anderweitig Steuern oder die Reduzierung der Renten selbst. Letzteres dürfte in sozialer Hinsicht die schlechteste Variante sein. Die Erhöhung der Rentenbeiträge ist als allgemeine Lösung nicht viel besser, da sie ebenso Einkommensverluste und als Folge auch wirtschaftliche Einbußen  beinhaltet. Der Vorschlag, sich das Geld 'von den Reichen' zu holen, dürfte als einfachste und populistisch gut zu vermarktende Idee die beste sein, mit dem einzigen Knackpunkt, dass das rein mathematisch nicht hinhauen dürfte, d.h. es reicht nicht. Bleibt also die Revolution vor oder nach der Pleite. Wie es danach weitergeht, kann man sich ja hinterher überlegen ...  ;)

Ich frage morgen mal meine französische Praktikantin, ob es in der Tat politisch glaubwürdige alternative Vorschläge gibt oder eben einfach nur Proteste. 

LG
Tula

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.03.23 um 12:21:
Wenn es, das gebe ich zu bedenken, um die Existenz geht, da bin ich 100% überzeugt, dass es bei der Wut nicht nur um die Pensionen geht, sondern um das große Ganze, eben auch um die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Erhöhungen, usw., dann kann man einfach nicht mehr "ruhig verhandeln", denn sind wir uns ehrlich, "ruhig" oder "rational" wurde noch nie eine Veränderung ins Leben gebracht. Besonders die Franzosen (und Italiener) sind schnell auf der Straße, wenn es um ihre Existenz geht. Manchmal wünschte ich mehr Leidenschaft bei uns, da wird immer alles hingenommen und dann gejammert.

 eiskimo meinte dazu am 26.03.23 um 14:10:
Wenn es um die Existenz geht, wie Du zugespitzt sagst, würden auch die Deutschen, denke ich,  kratzen und beißen und Leidenschaft zeigen.  Es geht aber in den allermeisten Fällen nicht um die Existenz, sondern um schwindende Kaufkraft und sinkende Reallöhne, was misslich genug ist. Aber darüber kann man verhandeln. Statt in den unbefristeten Streik zu treten, hat Verdi das übrigens für 160000 Beschäftigte bei der Post gerade vorgemacht. Und man hat im Schnitt 11 Prozent herausgeholt ... am Verhandlungstisch!
Laut Münchener Ifo-Institut werden die bislang getätigten Lohnabschlüsse spätestens Mitte des Jahres die Verluste durch die Inflation wieder wettmachen.
So, wie unser System gestrickt ist, haben im Übrigen Wirtschaft und Regierung das allergrößte Interesse, die Binnenachfrage im Lande hoch zu halten. Es soll ja konsumiert werden, und wachsende Reallöhne sind ein wichtiger Konjunkturmotor. Irgendwelche Gruppe verarmen zu lassen oder gar um die Existenz zu bringen, wäre hirnrissig.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.03.23 um 15:14:
Ähm... zugespitzt? - Existenz, tatsächlich.
Sieh dir bitte den großartigen Film an und wenn 64 dann noch immer die Rettung ist...
https://www.film.at/news/wie-im-echten-leben-trailer/401962838

Diese Leute werden bei solchen Entscheidungen nicht berücksichtigt.

Antwort geändert am 26.03.2023 um 15:45 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.03.23 um 18:08:

 eiskimo meinte dazu am 27.03.23 um 15:08:
@tula
Lies mal auf www.spiegel.de die Kolumne von Nikolaus Blome "So gefährlich dumm kann nur die Linke sein".
Was ich brav "irrational" genannt hatte, nennt der Leiter des Politikressorts bei n-tv  und RTL  "Irrsinn",und er findet noch andere deutliche Worte über die Streikenden in Frankreich.
Nee, es geht da längst nicht mehr um die Rente....
LG
Eiskimo

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.03.23 um 19:20:
Es geht um Demokratie, wenn man über die Köpfe der Nationalversammlung entscheidet. Das ist nicht nur ein Thema der Linken, sondern aller, die normal im Kopf sind. Europa ist mAn momentan schwer "verrückt", nämlich ver-rückt. Bei uns in Niederösterreich verlangen die Blauen, dass Kinder, die in der Pause nicht Deutsch sprechen, nicht reden dürfen, genauer Wunsch: Sie müssen Deutsch sprechen. Endlich gehen die Leute auch auf die Straße, dachte schon, die wären tot. Es reicht langsam, tatsächlich.

 Tula meinte dazu am 27.03.23 um 21:07:
Hallo nochmal
Es geht in der Tat um Demokratie, d.h. 'demokratische Kultur'. Meine junge Pariser Kollegin hat mir heute bestätigt, dass es aus ihrer Sicht keinerlei Gegenvorschläge der Opposition zur Reform gibt bzw. gab. Das spricht bereits für sich, denn eine Reform zur Finanzierung der Renten auf lange Sicht ist auch in Frankreich aus demografischen Gründen unabdinglich.
Nun geht es aber nicht um 'irgendein' Gesetz. Eine Reform wie diese sollte auf einem Konsensus aller Parteien und Interessengruppen basieren und will ausgehandelt werden. Macron hat die napoleonische Variante gewählt, d.h. eine Brechstange, unter Anwendung eines Artikels, der für andere außergewöhnliche Umstände vorgesehen ist. Verfassungsrechtlich erlaubt, aber politisch alles andere als demokratisch. Hier haben in der Tat alle Seiten versagt. Demokratie funktioniert anders.
Meine Kollegin fügte auch noch hinzu, dass manche Parteien Macrons Regierung gerade mit dem Scheitern der Reform zu Fall bringen möchte. Auch das typisch für fehlendes demokratisches Interesse, gerade wenn es um gesellschaftlich absolut wichtige Themen geht. Kurzfristig Hiebe verteilen, Neuwahlen ... und dann auch keine Lösung parat haben.

Fazit: Die 'Populisierung' der Gesellschaft schreitet voran, und Macron zeigt allen, wie man diesen Prozess, wenn auch ungewollt, noch beschleunigen kann.

LG
Tula

 eiskimo meinte dazu am 27.03.23 um 23:00:
Absurdes Theater: Die jetzt meinen, im Namen der Demokratie Macron stürzen zu müssen, verhelfen damit der Rechtspopulistin Le PEN zur Macht. Triumph! Die verhasste Reform wäre vom Tisch, die Demokratie aber auch....

 Mondscheinsonate meinte dazu am 28.03.23 um 05:41:
Das wollen sie gar nicht, somit KEIN absurdes Theater, denn das wissen sie. Diese Reformen zurücknehmen und Punkt. So eben nicht.

 Fridolin meinte dazu am 28.03.23 um 05:56:
Friedrich Burgdörfer, damals Abteilungsleiter beim Statistischen Reichsamt in Berlin und renommierter Bevölkerungswissenschaftler, prognostizierte 1932, man höre und staune, eine Verdopplung der Zahl der Rentner bis 1975 – was schließlich dazu führen würde, dass dann zwei Erwerbstätige einen Rentner mit ernähren müssten! Die Alten würden damit zu einer Last für die Jungen! Das Buch hieß bezeichnenderweise „Volk ohne Jugend – Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers“.
Dasselbe Bild, das uns auch heute wieder entgegengehalten wird. Und wir wissen, dass diese düstere Prognose damals schon falsch war. Die für die 60er und 70er Jahre vorhergesagte „Überalterung“ vertrug sich nicht nur gut mit steigenden Renten und verkürzter Lebensarbeitszeit, sondern beide waren sogar tragende Säulen der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft.
Aufgabe der amtlichen Statistik ist es, verlässliche Daten zur Bevölkerungsentwicklung zu erheben und zu veröffentlichen. Und das tut sie auch. Aber mit den sogenannten Vorausberechnungen wird diese Entwicklung dann auf Jahrzehnte hinaus verlängert und zugespitzt und lässt sich von interessierter Seite wunderbar als Grundlage für Horrorszenarien politisch missbrauchen.

Zitiert nach Günter Berg. Er hat zusammen mit Gerd Bosbach ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Die Demagogie mit der Demografie“

 eiskimo meinte dazu am 28.03.23 um 08:04:
Also werden wir "von interessierter Seite"  und deren "Horrorszenarien" an der Nase herumgeführt. Alles ein großer Betrug...
Weißt Du denn auch, wer konkret diese "interessierte Seite" ist. Was treibt sie an? Und stecken dahinter diesselben Drahtzieher in Frankreich und in Deutschland?

 eiskimo meinte dazu am 28.03.23 um 09:36:
@mondscheinsonate
In meinen Augen zu naiv betrachtet.
Da ist nichts mehr mit "wissen"  oder "wollen". Von wegen Augenmaß- es regieren Frust und Wut. 
Und es ist der Markenkern Europas, der sich da zerlegt, bei unserem wichtigsten Nachbarn.
Hern Putin wird es freuen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 28.03.23 um 10:48:
Ein fremdes Volk beschimpfen, als gutbezahlte Journalisten ist naiv und von der Ferne obergescheit tun, wo doch die einzige Sorge ist, ob man sich einen Luxusgegenstand leisten kann, oder nicht.
Natürlich regiert Frust und Wut, das war schon damals bei der Franz.Revolution, die von den Gewaltakten her nicht gutzuheißen war, aber schlussendlich eine Veränderung herbeigeführt hat. Zwar zunächst vom Regen in die Traufe, aber dennoch dem Volk mehr Beachtung geschenkt hat. Die Franzosen fühlen sich wieder nicht gehört, sie fühlen sich, wie Tulas Kollegin geschildert hat, ignoriert. Und, wenn du Frankreich längere Zeit beobachtest, ist Gewalt, besonders unter Jugendlichen in den Banlieues extrem hoch, für sie die einzige Möglichkeit gehört zu werden. Ist das gut? Nein! Aber, sie werden immer vergessen, bei jeder Entscheidung, werden ständig ignoriert, es gibt für sie keinen anderen Ausdruck mehr, sich bemerkbar zu machen. Wann warst du das letzte mal in Paris? Da fährst du mit dem Bus durch die Fabriksviertel und hast schon als wohlbehüteter Mensch Angst, siehst pure Armut einsteigen. In den U-Bahnen drinnen bewachen dich Polizisten mit Hunden, ja, sowas sieht man, wenn man abends ankommt. Die Wut und der Frust ist überall. Was sagte die Dame? 20qm², da wohnen Menschen in sowas. Das ist absurd, unmenschlich. Das muss geändert werden, bessere Lebensbedingungen her und wenn du es als naiv ansiehst, dann kann man nichts machen. Nochmals, die Jugend braucht Perspektiven und der Mittelstand muss wieder gestärkt werden, das übrigens, überall. Gut ausgebildete Junge sichern auch das Rentensystem. Wenn ein Hilfsarbeiter weiter bis 64 arbeitet und dann mit Mindestpension sich nicht einmal etwas zu fressen kaufen kann, das hat natürlich schwer einen Sinn.

 eiskimo meinte dazu am 28.03.23 um 11:54:
Nur zu der Vokabel "naiv": Du hattest als Ausweg aus dem "absurden Theater"   geschrieben "die Reform zurücknehmen und Punkt".  Das kommt, denke ich, nach allem, was passiert ist, zu spät -  insofern mein Kommentar mit dem "naiv".  
Zu der ganzen Jugendmisere und dem Elend in  den  Banlieus habe ich mich nicht geäußert. Aber dass da sozialer Sprengstoff liegt, ist unbestritten.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 28.03.23 um 11:58:
Nein. Zurück zum Verhandlungstisch. Demokratie wahren. Wenn das naiv ist, dann gerne.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram