Die Tänzerin

Erzählung zum Thema Charakterisierung/ Charakteristik

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  KUNSTWERK - SCHREIBWERK

Als sie mein Studio betritt scheint ihre grazile Zerbrechlichkeit sich zwischen dem empfindlichen Grat der ewigen Suche nach Nähe und subtilen Verletzungen zu bewegen. Das ist mein erster Eindruck. Ich begrüße sie: „Guten Tag, haben Sie den Weg zu mir gut gefunden?“
Sie wirft mir vorsichtige Blicke zu, wendet ihre Augen jedoch gleich wieder ab als ich sie freundlich anlächle und antwortet: „Ja, es ging so.“

Wir einigen uns zunächst auf zehn Stunden Tanztraining, in denen ich beabsichtige das komplexe Feld von Körperlichkeiten auszuloten und zu beleuchten, Halt zu geben und Halt zu gebieten, diese Notwendigkeiten jenseits aller Gefühle zwischen mir als Tanztrainer und ihr als Lernende.

Heute, am Ende des zehnten Tanztrainings, bitte ich sie in mein Büro.

„Wie fühlst du dich? Ich habe bemerkt, dass es dir schwer fiel zu tanzen.“


Jetzt folgt die Szene, die ich kenne, diese Wiederholungen in meinem Job, die zu einer Erwartung werden, dieses Kratzen im Hals, der Wunsch, dass sie nicht von ihrem Versagen spricht, dieser Augenblick des Vorherwissens. Dann die Bestätigung meiner Erwartung. Sie schaut mir scheu in die Augen.

„Ja“, sagt sie zögerlich, „ich fühle mich so erschöpft wie lange nicht mehr!“ Dann sackt sie im Stuhl mir gegenüber in sich zusammen.
Ich mache mir Sorgen, dass sie runterfällt, stehe auf und stütze sie.

„Soll ich dich lieber auf eine Isomatte legen?“
„Ja bitte, mir ist so schwindelig.“
Ich reiße mich zusammen, ergreife ihre Arme und Beine und trage sie – ein Leichtgewicht – zu einer Matte in den Tanzraum, lege sie dort vorsichtig ab, hole ein großes Kissen und schiebe es unter die Beine. Dann decke ich sie mit einer Wolldecke zu, hocke mich neben sie und lege meine Hand auf ihre Stirn. Langsam bekommt ihr Gesicht wieder Farbe. Plötzlich fängt sie laut an zu lachen.

„Es ist schön von dir auf deinen starken Armen getragen zu werden. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind und kann mich nicht erinnern, damals je getragen worden zu sein.“
Ich frage sie: „Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“
„Ja bitte, gern.“
Ich gehe in mein Büro und greife auch schnell noch eine Kerze und eine CD um im Tanzraum eine gemütlichere Stimmung zu schaffen. Nachdem sie das Wasser gierig ausgetrunken hat, frage ich: „Ist es dir recht, wenn ich eine andere Musik auflege?“
„Ja das ist genau das, was ich jetzt brauche.“
Ich starte den CD-Player und eine wunderschöne Arie von Maria Callas erklingt. Sie winkt mich wieder zu sich und flüstert: „Wie schön, dass du dich so liebevoll um mich kümmerst.“
Ich bin berührt und vergesse meine Rolle als ihr Tanztrainer. Sie zieht mich zu sich hinunter auf die Matte und dann unter die Decke, rutscht näher heran, reibt die Beine an meinen und legt ihren Kopf in meine Armbeuge. Wir geben uns dem Gesang hin und die Melodien erfüllen den Raum mit Melancholie und Traurigkeit. Nach einer Weile stillen Beieinanderliegens spüre ich ein kleines Rinnsal Feuchtigkeit auf mein T-Shirt tropfen und ein sanftes Schluchzen mischt sich mit der Stimme der Callas, bis diese nach Minuten verhallt. Für Momente spielen nur unsere sanften Atemzüge mit der uns umgebenden Raumluft.
Ich spüre wie sich eine noch etwas diffuse körperliche Leidenschaft in mir breitmacht. Ich versuche sie im Zaum zu halten. Unvermittelt sagt sie:

„Kannst du nicht jetzt mal etwas Flotteres auflegen!“

Sie gibt mich frei, indem sie die Decke lüftet. Ich stehe etwas enttäuscht auf, lege meine neuste CD ein und starte sie. Die Dubstep-Tracks des gefeierten Wunderknaben Mr. Blake schrauben unsere Stimmung hoch und ich setze mich neben sie. Die Energie der Musik lässt etwas nach, um schließlich mit mehr Wucht zurückzukommen und einem neuen Höhepunkt zuzusteuern.
Sie sagt: „In meinen Beinen pulst wieder Leben“, richtet sich auf, ergreift die Melodie und beginnt zu tanzen. Ich inhaliere den Rhythmus und beides vermischt sich auf eine immer erotischer werdende Weise. Ich übernehme die Führung und überlasse sie dann ihr. Im permanenten Wechsel von Rhythmus und Melodie entwickeln wir eine Leidenschaft, die nur derjenige erlebt, der Körper und Musik eins werden lässt. Und doch bleiben wir Individuen. Ohne Worte entziehen wir unseren Körpern Energien und lassen sie durch den Tanz, die Instrumente und die Stimme des Sängers wieder aufladen.
Als die Musik nach etwa einer Stunde endet, drückt sie ihren fragilen erhitzten Körper an meine Brust, presst ihr Gesicht an meine Wange, schließt die Augen und raunt: „Wie schön mit dir zu tanzen, ohne daran zu denken welche Schritte als nächstes kommen.“
Ich atme ihren Geruch, der noch den Schweiß des Tanzes widerspiegelt und sich mit meinem vereint. Minutenlang bleiben wir so stehen, um dann erneut den Tanz zu zelebrieren. Es vermischen sich Reste von Melancholie mit dem Feuer erwachter Leidenschaft. Ihr graziler und mein kräftiger Körper lösen alle Widersprüche auf, hauchdünne Gefühlsstränge halten uns lose zusammen und dann verwachsen wir wieder miteinander. Ich sauge ihren heißen Atem ein. Es öffnen sich alle Poren in sinnlicher Berührung.
„Hey“, sagt sie, „vor langer Zeit als ich mit dem Tanzen anfing habe ich versucht es zu erklären, die Tiefe, die bodenlose Angst, in der ich manchmal versinke, die grenzenlose Euphorie, mit der ich abhebe. Es ist als würde ich aus der Welt fallen.“
Ich nicke schweigend und sie fährt fort: „Es gibt eigentlich keine Worte dafür, der Fluss reißt mich mit und ich kann mich nicht dagegen wehren.“
„Warum willst du das denn?“
„Eigentlich will ich es nicht, ich will für immer verschwinden, will in die Finsternis hinein, die mich bedroht, will die Angst suchen, um mich ihr hinzugeben. Die ganze Zeit hasse ich dann meinen schwindligen Körper, will ihn loswerden, ihn verlieren, will, dass das Denken aufhört.“
Nach einigen Augenblicken des Schweigens streiche ich ihr wortlos sanft über die Haare und sage: „Ich muss jetzt leider nachhause. Sehen wir uns morgen zum Tanztraining?“

Sie lächelt und nickt.



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Kommentare zu diesem Text


 franky (12.05.23, 09:01)
Hi lieber Uwe 

"die grenzenlose Euphorie, mit der ich abhebe. Es ist als würde ich aus der Welt fallen."“

Gerne gelesen. 
Grüße für einen neuen Tag von Franky 

 uwesch meinte dazu am 12.05.23 um 10:00:
Das freut mich sehr lieber franky. Danke Dir für die Loorbeeren und wünsche einen schönen Tag.
LG Uwe

 AlmaMarieSchneider (12.05.23, 11:50)
Wunderbar geschrieben, mit viel Atmosphäre.
Gefällt mir sehr gut.

Liebe Grüße
Alma Marie

 uwesch antwortete darauf am 12.05.23 um 12:08:
Wunderbar Dein Kommentar :) Das bringt gute Laune in den Tag.  Danke Dir auch für die Empehlung. LG Uwe

 EkkehartMittelberg (12.05.23, 13:31)
Hallo Uwe,
man merkt, dass du einiges von dem somatischen Aspekt psychischer Sanierung verstehst.

LG
Ekki

 uwesch schrieb daraufhin am 12.05.23 um 14:02:
Na ja, als Sohn eines Chirurgen, der meint, dass man die Probleme einfach wegoperieren kann, ist das kein Wunder. Viele Leiden sind eher psychosomatischer Natur, was ein Chirurg i.d.R. anders sieht. Viele Blinddärme hätten drinbleiben können.
Da war ich in Opposition zusammen mit meiner Mutter. In den Nachkriegsjahren wurde viel verdrängt und führte zu Fehlurteilen.
Dank für Deine Empfehlung und LG Uwe

Antwort geändert am 12.05.2023 um 14:02 Uhr

Antwort geändert am 12.05.2023 um 14:04 Uhr

 harzgebirgler (12.05.23, 18:07)
super geschrieben, gerne gelesen.  :) lg vom harzer

anmerkung zur legendären callas & tanz -- 1962 sang sie in hamburg im rahmen eines umjubelten konzerts auch die 'habanera' aus 'carmen' von bizet*, wobei der komponist den entsprechenden tanzrhythmus aufgriff.

*https://www.youtube.com/watch?v=EseMHr6VEM0

 uwesch äußerte darauf am 12.05.23 um 18:17:
Ich bin persönlich kein Operngänger. Meine Mutter liebte Opern, mein Vater Barockmusik. Da gabs dann viel gegenseitiges Unverständnis.
Ich lauschte gern der Chris-Howland-Sendung - ich weiß nicht mehr wie die sich nannte - an unserem Röhrengerät, was damals Standard war. Das Hören wurde auch nur von Muttern geduldet. Wenn Vater von der Arbeit kam, mußten wir unsere Musikwünsche hintanstellen.

 harzgebirgler ergänzte dazu am 12.05.23 um 18:54:
jedenfalls erwähnt du in deinem beitrag die callas - die ich für einzigartig halte und unerreicht - in verbindung mit der tänzerin. so kam ich zu meiner anmerkung. - - die von dir gehörte musiksendung im radio mit chris howland war wohl die hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Musik_aus_Studio_B

 uwesch meinte dazu am 12.05.23 um 20:58:
Danke für den Hinweis und Deine Empfehlungen von heute. Wünsche Dir einen schönen, vielleicht auch kreativen Abend für neue Texte :) LG Uwe
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