Klingenmünster

So tief, so hart und so penetrant war ich in Wirklichkeit nie in ihr drin, aber die Realität frisst ihre Kinder, und deswegen glauben wir an den Nährwert von Tütensuppen, den Aufstieg der unteren Mittelschicht und an das Versprechen der Wiederauferstehung von den lebenden Toten. Die in Mitleidenschaft gezogene Körpermasse strebt der stärksten Gravitationsquelle zu, die ein Haufen flüssiger Steine ist. Ich bin wie ein Stoppschild auf der Autobahn, und dennoch treibe ich das Ding in meinem Schädel weiter an, obwohl alle mit 200 Sachen an mir vorbeibrettern; oder gerade deswegen. Die sich ausbreitende Hirnsiebigkeit trägt ihr Scherflein dazu bei, weswegen ich zunehmend auf Notizbücher von 1997 zurückgreife, wahrscheinlich, weil ich da in der Entzugsklinik war und mich nicht so recht erinnern kann, oder Schwarzweißfotos aus der Kindheit, wenn auch nicht unbedingt aus meiner, vielleicht.

Drei Tage in der Klinik. Diese unfassbare Nähe und das blinde Vertrauen, das mir entgegenschlägt, dass das überhaupt möglich ist, war mir nicht klar. Es ist ein Wunder. Ich hänge den geklauten Arztkittel an den Haken, schließe den fremden Spind, leere noch zwei oder drei Bettpfannen, schraube an Kanülen und Tröpfen, lege leise die Hand auf, fühle Puls, die Pillendosis wird erhöht, und dann verschwinde ich durch den Notausgang.

Sommersprossen sollten Sommersprenkel heißen, das habe ich schon oft gesagt. Auf der Autobahnraststätte. Hinter dem Stoppschild.

Sie bügeln die Wäsche, legen die Socken ordentlich in die Schublade, versorgen die Kinder, putzen, kochen, räumen auf, bevor der nächste Krieg ausbricht, die neuen Männer. Es ist ein großes Sichergeben.

© Rainer M. Scholz, 2024