Handelnde Personen:
Jörg
Gisela
Ginger
Ludwig
Martina
Andreas
Oskar
Kellner
Diverse Ratten und ähnliche Tiere
Die Bühne ist der Innenraum eines Lokals. In der Mitte steht ein langer Tisch, auf dem zwei Schilder mit dem Wort „Stammtisch“ darauf sind. An der Stirnseite sitzt bereits Jörg, daneben seine Frau Gisela. Vor ihnen steht eine kleine Box, die nach oben hin von einem Glasbehälter geschlossen ist. Der Glasbehälter ist oben offen. Die zwei scheinen mit dem Inhalt der Box beschäftigt zu sein.
Jörg:
[In die Box]
Ja, wundervoll. Fein machst du das. Ja, brav meine Liebe.
Gisela: Ja, schön brav, kleine Ratte.
Jörg:
[Schaut sie verärgert an.]
Gisela!
Gisela:
Was?
Jörg:
Sie hat einen Namen – Bettina Michaela von Ferdinand-Schaufelsheim.
Gisela:
Ja, stimmt schon. Es tut mir leid, Bettina. Kommt auch nicht wieder vor.
Jörg:
Ja, ja, schon gut. Wo bleiben denn die anderen?
Gisela:
Bleib ruhig. Martina hat doch gesagt, sie bringt noch einen Arbeitskollegen mit und das könnte eventuell länger dauern. Und wie Oskar ist, weißt du auch!
Jörg:
Stimmt. Ach, da sind sie ja schon.
[Andreas und Martina treten ein. Andreas hält eine mittelgroße Box vor sich, die er vorsichtig auf den Tisch stellt. Hinter ihm kommen Ludwig und Ginger. Es werden reihum die Hände geschüttelt.]
Andreas:
[Er fummelt etwas an der Box rum.]
Gleich kommt ihr zu den anderen, meine Kleinen. Ja, da freut ihr euch.
Martina:
Nun, das hier sind jedenfalls Ludwig, mein Arbeitskollege, und seine Freundin Ginger.
Jörg:
Schön, euch kennen zu lernen.
[Er lächelt freundlich.]
Wo sind eure Ratten?
Ludwig:
Ähm…wir haben keine Ratte.
Jörg:
[Er lächelt nicht mehr.]
Wie, keine Ratte? Dies ist ein Rattenstammtisch!
Ginger:
Wir haben trotzdem keine Ratte.
Martina:
Jörg, bleib ruhig. Ich habe sie eingeladen und du warst damit einverstanden.
Jörg:
Nun gut, wollt ihr euch mal eine Ratte zulegen?
[Ginger und Ludwig schauen sich stirnrunzelnd an. Martina nickt den beiden schnell und eifrig zu. Ludwig antwortet langsam und monoton.]
Ludwig:
Ja…wir wollen eine Ratte haben.
Jörg:
[Er lächelt wieder.]
Oh wie schön, habt ihr schon einen Namen?
Ludwig:
Äh, klar…äh…
Ginger:
Brigitte.
Ludwig:
Genau, irgendwas mit G war das!
Jörg:
Brigitte…das ist aber ein komische Name für eine Ratte. Wisst ihr, meine Bettina Michaela von Ferdinand-Schaufelsheim wirft demnächst. Ausgezeichnete Zucht!
Andreas:
Genau, wisst ihr, Jörg ist einer der besten Rattenzüchter von ganz Deutschland. Schaut euch mal alleine das Fell seiner Bettina Michaela von Ferdinand-Schaufelsheim an.
[Ludwig und Ginger schauen in die Box. Fragend blicken sie wieder zu Jörg.]
Ginger:
Ähm…und welche ist jetzt die Bettina? Die da, die da, die da oder die da?
Jörg:
[Mit pikiertem Gesichtsausdruck.]
Also mal ehrlich, über die Rattenhaltung müsst ihr noch sehr viel lernen.
[Er beugt sich über die Box.]
Meine Bettina Michaela von Ferdinand-Schaufelsheim ist dies schöne Geschöpf hier in der Ecke. Das da ist Gesine von Reuss obere Linie, und das dort sind Rüdiger von Nippelbruch und Heinz Erhardt Karl-Theodor, der Dritte.
Ginger:
Wie? Die zwei, die da gerade in die Ecke kacken?
Jörg:
[Mit finsterer Miene.]
Sie kacken nicht, sie koten ab!
Gisela:
Jörg ist ja so ein Experte. Niemand kümmert sich so um seine Ratten wie er!
Jörg:
Ja, das ist etwas, worauf ich wirklich stolz sein kann. Ich stehe jeden Morgen extra um fünf Uhr früh auf und kämme das Fell jeder einzelnen Ratte einhundertmal durch.
Ludwig:
Einhundert mal?
Ginger:
Fünf Uhr früh?
Jörg:
Ja, wenn ich einmal vor Gott stehen sollte und er mich fragt, was ich denn so geleistet habe, dann kann ich sagen, dass ich der beste Rattenzüchter der Welt gewesen bin. Ach was, der Welt – der beste Rattenzüchter aller Zeiten!
Ginger:
Bester Rattenzüchter aller Zeiten?
Jörg:
[Mit stolzgeschwellter Brust.]
Ganz genau.
Ginger:
Indem du Nagetiere mit einem nackten Schwanz kämmst?
Jörg:
[Haut mit der Faust auf den Tisch.]
Also langsam reicht es mir aber! Ihr seid ja total…
[Gisela unterbricht ihn.]
Gisela:
Jörg, beruhige dich! Doch nicht vor den Ratten!
Jörg:
[Er atmet kurz tief ein.]
Du hast recht! Ich darf vor den Ratten nicht so aggressiv werfen. Das übt einen schlechten Einfluss auf sie aus!
[Er schaut in die Box.]
Joa, meine Kleinen, ich bin ja schon wieder gaaanz fröhlich. Schaut mal, wie ich lache.
[Er bleibt weiter über die Box gebeugt und murmelt in sie hinein.]
Gisela:
[Etwas leiser.]
Ihr müsst ihn entschuldigen, aber er ist halt ein bisschen exzentrisch.
Ginger:
Ein bisschen?
Martina:
Lasst euch davon nicht unterkriegen. Wir wollen schließlich noch einen schönen Abend haben, oder?
Andreas:
Genau – habt ihr das neueste im Rattenspiegel gelesen?
Gisela:
Der Artikel über die neue Reisebox? Wie hieß die noch gleich?
Martina:
Die neue Rattle? Ja, die ist toll. Ich habe gleich zwei bestellt.
Ludwig:
Rattenspiegel?
Ginger:
Reisebox?
Martina:
Ja, ein unglaubliches High-Tech-Gerät. Mit integrierter Belüftungsanlage, automatischem Nahrungsspender, also einfach alles vom Feinsten.
Ginger:
Reicht nicht einfach eine Pappschachtel? Ein paar Löcher rein und gut ist.
Gisela:
Natürlich ginge das auch. Aber sag das mal Jörg.
[Sie verdreht die Augen.]
Andreas:
Gleich wird es haarig – schaut mal, wer da kommt!
Martina:
Oh nein, das ist Oskar.
Gisela:
Und er hat wieder eine große Kiste bei sich.
Ludwig:
Wer ist Oskar?
Gisela:
Nun Oskar ist nicht wirklich ein Mitglied des Rattenstammtisches…zumindest, wenn es nach Jörg geht.
Ludwig:
Warum denn?
Gisela:
Also…Oskar…hat keine Ratte. Er sucht immer noch eine und kommt jedes Mal mit einem anderen Tier an.
Martina:
Letztes Mal war es ein Feldhase.
[Oskar tritt ein. Er hat eine große Schachtel in den Armen, die er unsanft auf den Tisch fallen lässt. Jörg schaut wieder von der Box auf.]
Jörg:
Oskar! Was hast du denn diesmal für ein Monster angeschleppt?
Oskar:
Hallo, Jörg, schön dich wiederzusehen.
[Er öffnet die Schachtel.]
Dieses Mal habe ich wirklich eine Ratte dabei.
[Er zeigt strahlend in die Schachtel.]
Jörg:
Oha, dann zeig doch mal.
[Er geht zu Oskar und blickt in die Schachtel.]
Was ist das?
Oskar:
Eine Ratte.
Jörg:
Das soll eine Ratte sein? Dieses…Ding da?
Oskar:
Ja.
[Auch alle anderen sind aufgestanden und schauen in die Schachtel.]
Ginger:
Ich glaube, das ist eine Bisamratte.
Oskar:
Ganz genau. Ach ja, ich bin übrigens Oskar.
Ginger:
Ginger.
Ludwig:
Ludwig.
Jörg:
Eine Bisamratte? Das zählt nicht!
Oskar:
Wieso? Ratte ist Ratte.
Jörg:
[Aufgebracht.]
Bisamratten im Sinne von Bisamratten sind keine Ratten im Sinne des Rattenstammtisches!
Ginger:
Sieht zumindest niedlicher aus als die anderen Viecher.
Jörg:
Viecher? Das sind Ratten. Dieses Biest hier ist ein Vieh!
Oskar:
Boah – du Rattist!
Jörg:
Wie bitte? Ich soll ein Rattist sein? Du weißt doch noch nicht einmal, was eine Ratte ist!
Oskar:
Ach, für dich gibt es doch eh nur deine Zauberratten und sonst nichts. Akzeptiere, dass es auch andere Tiere gibt. Und schönere dazu!
Jörg:
Kein Tier ist schöner als eine Ratte!
Ginger:
Katzen?
Jörg:
Katzen? Das sind unsere Todfeinde!
Oskar:
Also ich für meinen Teil stecke jetzt meinen Hasso zu den anderen, dann können sie zusammen spielen.
Jörg:
[Entsetzt.]
Hältst du dieses Monstrum gefälligst von unseren Goldstücken fern?
Oskar:
Wieso denn?
Jörg:
Meine Bettina Michaela von Ferdinand-Schaufelsheim kriegt ja einen Herzinfarkt, wenn dieses Ungeheuer neben ihr auftaucht. Es soll gefälligst in seiner Box bleiben!
Oskar:
Nicht nur, dass du Rattist bist, jetzt forderst du auch noch die Rattentrennung?
Jörg:
Jetzt hör aber mal mit diesen schwachsinnigen Begriffen auf! Ich bin kein Rattist! Du hast einfach nur keine Ahnung!
Ginger:
Ähm, wie war das jetzt noch mal mit „einen schönen Abend machen“?
Andreas:
Ginger hat recht. Beruhigen wir uns und genießen das Essen.
Oskar:
Beruhigen? Wenn dieser bleivergiftete Trottel da nur Mist redet?
Jörg:
Ach ja? Wie lautet denn bitte der lateinische Begriff für eine Ratte?
Oskar:
Das ist der Ratte doch völlig egal! Ich könnte deine Bettina-Ich-habe-zwanzig-Vor-und-Zunamen-Guttenberg auch Cholera rufen. Dann scheißt sie trotzdem nicht anders in die Ecke!
Jörg:
[Schreiend.]
Sie koten ab! Verdammt noch mal, es heißt abkoten!
Oskar:
Die scheißen die Ecken voll!! So sage ich es und so meine ich es!!
Martina:
Nun kommt mal wieder runter!
[Sie klappt eine Speisekarte auf.]
Was wollen wir denn essen?
Oskar:
[Zischend.]
Wie ich höre, ist Ratatouille das Tagesgericht!
Jörg:
Das wagst du nicht!
Oskar:
Hindere mich daran!
Jörg:
Mache ich – ich bestelle einfach Bisamratte am Spieß!
Andreas:
Gibt es denn hier überhaupt Bisamratte in der Karte?
Jörg:
Es ist mindestens eine hier im Raum!
Oskar:
Das würdest du Hasso nicht antun!
[Der Kellner kommt.]
Kellner:
Verzeihung, aber es gibt bereits mehrere Beschwerden von anderen Gästen über sie. Könnten sie sich bitte etwas mäßigen?
Gisela:
Wir regeln das gerade, keine Sorge.
Kellner:
Nun ja, wenn sie nämlich noch lauter werden, müsste ich sie rauswerfen!
Ginger:
Dann bin ich ja mal gespannt, wie die zwei Streithähne das beilegen.
Oskar:
Wir streiten doch gar nicht. Wir diskutieren.
Jörg:
Das ist keine Diskussion! Du hast einfach keine Ahnung.
Kellner:
Meine Herren, Ruhe bitte! Sonst muss ich sie bitte zu gehen!
Jörg:
[Steht auf.]
Kein Problem, wir regeln das draußen!
Oskar:
[Krempelt seine Ärmel hoch.]
Okay!
Jörg:
[Zum Kellner.]
Wenn wir leise sind, dann dürfen wir bleiben?
Kellner:
Dann ja. Aber ich habe sie im Auge!
[Ab. Jörg setzt sich wieder.]
Jörg:
Gut, dann diskutieren wir das aus.
Ludwig:
Wollen wir nicht mal langsam was bestellen?
Gisela:
Das ist eine gute Idee. Habt ihr schon was ausgesucht?
Ginger:
Das Hirschragout hört sich toll an.
Martina:
Ich hatte vorhin schon was. Ich werde einen großen Salat bestellen.
Andreas:
Geschmorte Rippchen mit Prinzessinnenkartoffeln und Pilzsauce. Auch schön.
Jörg:
Oh, es gibt falschen Hasen.
Oskar:
Was soll das denn jetzt wieder heißen?
Jörg:
Was?
Oskar:
Das ist doch sicher wieder so eine Anspielung.
Jörg:
Nein, es gibt wirklich falschen Hasen.
Ludwig:
Wo denn? Ich finde den gar nicht in der Karte.
Jörg:
Hab mich wohl verlesen.
Oskar:
Also war es doch eine verdammte Anspielung!
Jörg:
Natürlich war es eine verdammte Anspielung! Aber wie soll das jemand merken, der noch nicht mal den Unterschied zwischen einer Ratte und Bisamratte kennt? Oder einem Feldhasen?
Oskar:
[Haut mit beiden Fäusten auf den Tisch.]
Natürlich kenne ich den! Eine Ratte ist ein Nagetier mit einem nackten Schwanz! Und sie muss nicht jeden Tag um fünf Uhr früh gekämmt werden!!
Jörg:
Und wie soll das Fell sonst so schön glänzen?
Oskar:
Mit Arsen!
Gisela:
Jetzt werden die beiden giftig.
Jörg:
Ich soll meine beiden Lieblinge vergiften?
Oskar:
Nein, dich! Dann sind deine Ratten endlich aus ihrer Tyrannei befreit.
[Der Kellner kommt wieder.]
Kellner:
Es tut mir leid, aber das reicht jetzt! Verlassen sie sofort unser Lokal!
Jörg:
Ja, da siehst du, was du angerichtet hast!
Martina:
Na, das war doch mal wieder ein schöner Stammtischabend.
Gisela:
Ja, war mal wieder richtig konstruktiv.
Andreas:
Gisela hat recht. Wie jeden Monat eine tolle Runde.
Oskar:
[Zu Jörg.]
Du unterbelichteter Aushilfszüchter!
Jörg:
Zweifelhafte, zerebrumlose, zirzensische, zivillose, zoologisch uninteressierte und zyklothyme Zystalgie!
Oskar:
Das war nicht komisch!
Jörg:
Ich weiß!
[Beide ab, man hört sie im Hintergrund aber immer noch streiten. Alle anderen außer Ginger und Ludwig stehen auch auf. Andreas nimmt die Box mit den Ratten.]
Ginger:
Moment mal – geht das hier jedes Mal so?
Martina:
Also ab und zu schaffen wir es auch mal bis zur Vorspeise.
Andreas:
Geht aber nicht immer. Meistens ist es halt so wie heute. Na dann Tschüß.
[Ab.]
Gisela:
Tschüß, war schön, euch kennenzulernen.
[Ab.]
Martina:
Na ja, vielleicht sieht man sich ja noch mal. Bis demnächst.
[Ab.]
Ludwig:
Hey, die haben die Bisamratte vergessen.
Ginger:
Wehe, du läufst diesen Wahnsinnigen jetzt hinterher! Hast du noch mehr solche Mitarbeiter?
Ludwig:
Wo du es gerade erwähnst…nächste Woche sind wir mit Claudia aus der Buchhaltung verabredet.
Ginger:
Hat sie eine Ratte?
Ludwig:
Nein.
Ginger:
Dann ist ja gut.
Ludwig:
Sie ist in einem Taubenzüchterverein.
[Licht aus. Ende.]