Schulgeschichten. Wie moderne Methoden scheitern können

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  EkkehartMittelberg

Wir hatten 1949 in der Sexta (5. Klasse) einen Mathematiklehrer, der es gut mit uns meinte. Er glaubte, dass wir uns Zahlen, die über tausend hinausgingen, nicht vorstellen könnten. Also zerlegte er diese in Tausender, Hunderter, Zehner und Einer  und diktierte sie so, dass wir einen Begriff erhalten sollten, wie sie sich aufbauten.

Nehmen wir zur Verdeutlichung zwei Zahlen.  Die erste lautet 7436. Der Lehrer diktierte sieben Tausend, vier hundert, drei zig (also drei Zehner), sechs einer. Kein Problem werden Sie sagen.
Aber wenn die Ziffer 1111 lautete, klang das beim Diktieren schon etwas seltsamer, also eins tausend, eins hundert, ein zig, eins.

Ich dachte, was soll der Scheiß, denn addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren konnte ich bis dahin einwandfrei. Und dann kam wie der Blitz aus dem heiteren Himmel die unangekündigte erste Klassenarbeit. Vorgefertigte Arbeitsblätter mit den Aufgaben gab es damals nicht. Der Lehrer diktierte also in der oben angegebenen Manier, und ich war im Vertrauen auf meine Rechenkünste schnell.

Wenn zum Beispiel eine Zahl 2001 lautete, hatte er gerade zweitausend gesagt, da stand auch schon 2000 auf meinem Arbeitsblatt. Gut, wenn er weiter diktierte „0 hundert“ notierte ich richtig nichts und bei „0 zig“ auch nichts, aber dann folgte ja noch die eins und ich hatte statt 2001 20001 notiert.

Das wäre kein Unglück gewesen, wenn er mit meinen falsch notierten Zahlen nachgerechnet hätte, denn die Ergebnisse stimmten. Aber den Luxus gönnte er sich damals nicht, sondern glich nur unsere Ergebnisse mit den Lösungen ab, die bei mir natürlich falsch waren. So erhielt ich die Arbeit mit der Note 4, damals mangelhaft, zurück.

Die Klassenarbeit war zu schlecht ausgefallen und musste wiederholt werden. Das geschah aber sofort nach der Rückgabe, ohne dass die ungewohnte Methode des Diktierens noch einmal besprochen worden wäre. Wie konnte es also anders sein, meine nächste Klassenarbeit wurde wiederum mit 4 (mangelhaft) benotet. Ich tröstete mich damit, dass ich bei der ersten Arbeit, als noch traditionell diktiert wurde, eine 2 (gut) geschrieben hatte und rechnete  2+4+4=10, geteilt durch 3= 3-. Denkste, auf dem Zeugnis stand  4, „mangelhaft“.

Im nächsten Halbjahr ging es mit der Bruchrechnung weiter, und die Aufgaben wurden in für mich gewohnter Weise diktiert. Ich hatte keine Probleme und schrieb die folgende Arbeit „2“. Darunter stand mit dem Blick auf vorherige Misserfolge als Kommentar: „Mittelberg ist kein Rechner, aber ein Mathematiker“.

Naja, wenn ich so zurückdenke, habe ich zum Beispiel die Wahrscheinlichkeitsrechnung in meinem Leben ganz gut beherrscht, aber manchmal hätte ich doch genauer rechnen sollen. Das war unter meiner "Würde", denn ich bin ja Mathematiker.

© Ekkehart Mittelberg, Dezember 2014

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Fabi (50)
(14.12.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.12.14:
Ja, danke Fabi, so ist es. Ich denke, der große Fehler dieses Pädagogen bestand darin, dass er nicht bedacht hatte, welche Umstellungsschwierigkeiten sich bei der Einführung seiner neuen Methode ergeben könnten. Wenn er zum Beispiel gesagt hätte: "Schreibt, wenn ich diktiere, nur immer eine Ziffer für die Tausender, für die Hunderter, die Zehner und die Einer nieder" und sich mit der Kontrolle von ein paar Heften vergewissert hätte, ob das klappt, wäre es zu den Schwierigkeiten einiger Schüler nicht gekommen.

LG
Ekki
Fabi (50) antwortete darauf am 14.12.14:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Regina (14.12.14)
Ich fürchte, dass es heute noch viel seltsamere Methoden gibt als die hier beschriebene.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 14.12.14:
Merci, Regina, ich möchte das nicht ausschließen. Vielleicht erhalten wir in den folgenden Kommentaren ja noch das eine oder andere Beispiel.

 TrekanBelluvitsh (14.12.14)
Na, die Aussage "„Mittelberg ist kein Rechner, aber ein Mathematiker“ ist ja eigentlich ein Lob!

Erinnert mich ein wenig, an das - meiner Ansicht nach - verfehlten Einstellung der Macher der Rechtschreibreform (und damit meine ich nicht, dass es einiges 'Hüh' und 'Hott' gab. Das ist bei so etwas fast normal). Man lässt Menschen, die etwas anderes gelernt haben nicht die nötige Zeit, um sich umzustellen. Stattdessen wird das, was sie tun, als FALSCH abgestempelt.

Wobei es hier eigentlich ja um keine Änderung an sich, sondern nur um eine Änderung der Darstellung ging. Aber mein Bruder gehört auch zu den Befürwortern von 'Zwanzigneun' anstatt 'Neunundzwanzig'. Seltsamerweise sind diese Leute aber nicht für 'Zehnsieben' und schon gar nicht 'Zehneins' - natürlich begründet! Konsequenz sieht anders aus. Aber Regelmacher lieben halt die, Ausnahmen zu kreieren, in denen man sich NICHT an sich halten muss - und dabei sind sie noch noch nicht einmal der Teufel!
(Kommentar korrigiert am 14.12.2014)

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 14.12.14:
Danke für deinen humorvollen Kommentar, Trekan. Der Lehrer meinte das mit dem Mathematiker tatsächlich als Lob. Der nicht unsympathische Typ hat nie kapiert, warum in der damaligen Lernphase neben mir noch ein paar andere in seinem Unterricht versagten.
Ich finde in deinem Kommentar wichtig, dass man Methoden nur ändern sollte, wenn man mit der neuen Methode wirklich konsequent ist. Andernfalls trägtman zur Vermehrung von Fehlern statt zu ihrer Verminderung bei.
LottaManguetti (59)
(14.12.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 15.12.14:
Ja, die Erfindung des Rads, stets von Neuem, das trifft auf die Geschichte der Pädagogik zu. Mit jedem Regierungswechsel in jedem Bundesland werden mit Wichtigtuerei mindestens ein paar Speichen neu erfunden. Merci Lotta.

Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (15.12.14)
Mathematiker können selten gut rechnen. Stimmt. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.12.14:
Ja, danke Armin, aber wenn es darauf ankommt, können sie rechnen. Doch mit falsch verstandenen Methoden wie in meiner Erzählung wird das verhindert.

LG
Ekki

 TassoTuwas (15.12.14)
Es scheint sich nichts zu ändern, an den Schulen wird alle paar Jahre das gelbe vom Ei erfunden.
Gut, dass du von der Zahlentrickserei zur Schreibkunst gewechselt bist.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.12.14:
Tasso, ich bin sicher, das deine Aussage von der unechten Neuerfindung bestätigt würde, wenn man die Bildungspläne der deutschen Bundesländer historisch untersuchen würde Danke!

Herzliche Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (15.12.14)
Mein lieber Ekki,
ungeachtet deiner Misserfolge im Matheunterricht halte ich diesen Pädagogen, dessen Lehrmethoden selbst nach Jahrzehnten noch so gut in Erinnerung sind und für Erheiterung sorgen, für eine Legende!!! Insbesondere seine soziale Einstellung finde ich sehr lobenswert. Wo denn sonst darf der elfte sich als der ein zig erste fühlen?
Schöne Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.12.14:
Merci, Didi, dem kann ich nicht widersprechen.
Ich habe gerade versucht, die Tatsache, dass der nächste Fassching am 11.11. um 11.Uhr 11 beginnt, in die Sprache dieses Pädagogen zu übersetzen. Dabei wurde mir leicht schwindlig.

Liebe Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram