Schulgeschichten. Der Sanfte

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  EkkehartMittelberg

Im siebten Schuljahr kam ein neuer Schüler in unsere Klasse, dem sofort ungewöhnlich viel Beachtung zuteil wurde. Er war ein mediterraner Typ mit schönen braunen Augen und gewelltem schwarzen Haar, aber er hatte einen leichten Buckel und eine hohe mädchenhafte Stimme. Er sprach nicht viel, aber seine Äußerungen wirkten für einen Jungen dieses Alters sehr vernünftig und betulich, sodass er nach kurzer Zeit mit dem Spitznamen Oma gehänselt wurde.
Oma war kein guter Sportler, und er fiel auch nicht durch besondere schulische Leistungen auf, die er dem Spott hätte entgegensetzen können. Aber er zeigte nicht die geringste Verärgerung, wenn er gemobbt wurde und antwortete auf ironische Bemerkungen ruhig und gelassen, als wären sie wörtlich gemeint. Sein immer gleichbleibend sanftes Verhalten umgab ihn wie ein Schutzwall, an dem böse Bemerkungen abprallten, sodass die Spötter zunehmend die Lust verloren, ihn zu ärgern. Er hieß mit Vornamen Walter, und allmählich verlor sich der Spitzname Oma, und man nannte ihn wegen seiner mädchenhaften Sanftheit Wälterchen.
Wälterchen besuchte mit mir den Konfirmandenunterricht, der von einem stinklangweiligen Pastor geleitet wurde. Alle Konfirmanden spielten diesem Geistlichen Streiche oder ergötzten sich an dessen unbeholfenen Reaktionen, nur Wälterchen nicht. Das verbot sich für ihn aus zwei Gründen. Zum einen entsprach es seinem sanften Wesen, andere, gleichgültig ob Mitschüler oder Lehrer, nicht zu verspotten und zum anderen war er sehr religiös. Er hielt sich mit Kritik jeder Art zurück, und so verurteilte er auch unsere Streiche nicht, die wir dem Pastor spielten.
Wälterchen ging mit der Mittleren Reife von der Schule ab. Der phrasenhafte Ausdruck Reife passte zu diesem Jungen, der mit 16 Jahren wie ein gesetzter erwachsener Mensch wirkte. Seine altersuntypische Sanftheit und Vernunft bewirkten, dass Wälterchen keine Freunde hatte, und so erfuhren wir auch nicht, weshalb er uns vor dem Abitur verließ.
Wir anderen feierten unser Goldenes Abitur und hatten Wälterchen ganz vergessen. Da meldete er sich bei mir und teilte mir mit, dass er im Dienste der Kirche glücklich verheiratet in Baden-Württemberg lebe. Danach erhielten einige andere Klassenkameraden und ich zu unseren Geburtstagen immer Glückwunschkarten von Walter, in denen er uns Gottes Segen wünschte. Er hatte in seinem fotografischen Gedächtnis sämtliche Geburtstage der Klassenkameraden gespeichert.
Er setzte, wie ich glaube, naiv voraus, dass seine Adressaten wie er gläubige Christen geworden waren. Ich habe ihm jedes Mal geantwortet und mochte ihm die Illusion nicht zerstören, dass ich ihm im Glauben verbunden sei. Ich weiß, dass es inkonsequent ist, aber es berührt mich immer besonders, wenn Walter mir Gottes Segen wünscht.

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Kommentare zu diesem Text

matwildast (37)
(10.04.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Ja, danke, wie er als zwölfjähriger über dem Mobbing stand, war er für uns ein unbegreifbarer Mensch.
matwildast (37) antwortete darauf am 10.04.18:
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 TrekanBelluvitsh (10.04.18)
Er ging seinen Weg. Hat er was verpasst? Höchstwahrscheinlich. Ist er glücklich? Höchstwahrscheinlich.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 10.04.18:
Mein Kontakt zu ihm ist nicht so eng, dass ich mit Gewissheit sagen könnte, dass er glücklich ist. Er hat wohl nicht verpasst. Aber wir haben verpasst, von dem jungen Sanften Gelassenheit zu lernen.

 TassoTuwas (10.04.18)
Hallo Ekki,
ich mutmaße Wälterchen hätte sich nie vom Parkplatz gestohlen wenn er dem Nebenparker den Spiegel abgefahren hat. und er hätte bestimmt die Serviererin darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich zu seinen Gunsten verrechnet hat.
Ein bisschen mehr Walterchen würde der Welt nicht schaden!
So eine unaufgeregte Geschichte ist ab und zu nötig
Herzliche Grüße
TT

 Didi.Costaire äußerte darauf am 10.04.18:
Das stimmt.
Und auch ein paar mehr reifere Ekkis, die leben und leben lassen und ihrem Gegenüber nach Möglichkeit ein gutes Gefühl geben, wären nicht verkehrt.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.04.18:
@TassoTuwas: Merci, solche Typen wie Wälterchen sind keine Helden, aber sie sind einfach anständig und anständige Menschen fehlen.
Herzliche Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
@Didi.Costaire: Du kennst mich gut. Leben und leben lassen ist mir wichtig. Danke.
Liebe Grüße
Ekki

 Habakuk (10.04.18)
Besonders tröstlich an der Geschichte finde ich, dass wenigstens aus einem von euch etwas Anständiges – Gescheites will ich gar nicht mal sagen – geworden ist. Aber du bist noch jung, du hast noch alle Zeit, Walters Illusionen ein Stück weit Realität werden zu lassen. Warum ich gerade an ein Lied aus jüngeren Tagen mit dem Titel „Mein Gott, Walter“ denken muss, weiß nur der liebe Gott.

BG
H.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Merci, Habakuk, Menschen wie der Sanfte sind oft a bisserl weltfremd und verklemmt. Walter war und ist es nicht. Er würde sich über das Lied "Mein Gott, Walter"köstlich amüsieren.
BG
Ekki
Sätzer (77)
(10.04.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Danke, Uwe, das stimmt. Wahrscheinlich gibt es in der Gesamtgesellschaft mehr besondere Menschen als es scheint. In einer Schulklasse ist man täglich zusammen und hat mehrere Jahre Zeit, die Besonderheiten seiner Mitschüler zu beachten.
LG
Ekki

 LotharAtzert (10.04.18)
Eine Oma oder Wälterchen auf kV, will mir gar nicht vorstellen, wie dem geschähe.
Aber Ekki, nicht nur die Sanften können aufrichtig sein, es gibt da, und das weißt Du ja auch, auch ein paar Kämpfer, die's ebenfalls nicht immer leicht haben und schnell verkannt werden.
Gern gelesen.
Gruß
L.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Lieber Lothar,
einige würden die Kämpfer bei kV gerne ich Acht und Bann tun. Es ist ermutigend, dass ihnen das nicht gelingt.
Heitere Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund (10.04.18)
" in Baden-Würtemberg" : Ein an dieser Stelle merkwürdig anmutendes Detail, das zudem keine Bedeutung zu haben scheint. Ansonsten gerne gelesen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
danke, lieber Dieter,
da habe ich wohl zu viel vorausgesetzt. Wälterchen gehört zu den Pietisten, die in der landeskirche von Baden Würtemberg immer noch eine besondere Rolle spielen.
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/die-pietisten-praegen-das-land-baden-wuerttemberg-13612808.html
LG
Ekki
Graeculus (69) meinte dazu am 10.04.18:
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 10.04.18:
Nee, auf diesen kleinen Fehler wollte ich nicht hinweisen, habe es mit dem Zitat nolens volens trotzdem getan.
Also, Ekkehard aus die Hessäland, das heisst Baden-Württemberg!
Ich persönlich kenne keinen Pietisten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.04.18:
@Dieter und Graeculus: Danke, dieses zweite t habe ich immer überlesen.
Graeculus (69) meinte dazu am 12.04.18:
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 GastIltis (10.04.18)
Hallo Ekki, ich staune immer wieder, wie detailgerecht du die Charaktere in deinen Geschichten wiederzugeben vermagst. Nicht in der Kompliziertheit liegt das Besondere, nein, das Einfache darzustellen macht die Schönheit aus. Authentischer können die Personen, in diesem Fall der Sanfte, nicht wirken. Tschechow und Turgenjew haben es vorgemacht; ich mag es, wenn das Schlichte unauffällig geschrieben scheint und sich doch einprägsam entfaltet. LG von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Lieber Gil,
ich darf mich glücklich schätzen, dich unter meinen Kommentatoren zu haben, weil du immer genau spürst, worauf es mir ankommt, in diesem Falle auf die Einfachheit der Darstellung. Ich habe sogar kurz an die von dir erwähnten Russen gedacht. Vielen Dank
Ekki

 AZU20 (10.04.18)
Es ist schon interessant, solche Menschen kennenzulernen. Gut beschrieben. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Merci, Armin. Weißt du, solche Menschen wie der Sanfte haben nie im Leben publikumswirksame Auftritte und dennoch wirken sie mehr nach als die, die im Rampenlicht stehen. Über diese Erkenntnis freue ich mich.
LG
Ekki

 princess (10.04.18)
Lieber Ekki,

sie birgt einfach eine schöne Geschichte, diese Erzählung. Dass es berührt, wenn so ein Walter Glückwunschkarten mit Gottes Segen verschickt, das kann ich absolut nachvollziehen. Ob es inkonsequent ist, darauf ohne Glaubens"klarstellung" zu antworten? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch einfach nur konsequent. Nämlich eine Konsequenz des erfahrenen Wohlwollens.

Liebe Grüße
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
grazie, Ira, du zeigst mir den Weg, schlicht zu denken, und das Ergebnis ist einfach überzeugend.
Liebe Grüße
Ekki
Hilde (62)
(10.04.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.18:
Merci, Hilde, so war es, der stabile Sanftmut bewirkte, dass man schließlich Walter so akzeptierte, wie er war. Man kann nur gewinnen, wenn man sich treu bleibt.
Liebe Grüße
Ekki
Falstaff (76)
(11.04.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.04.18:
Vielen Dank, Falstaff. Was du über die Vergabe von Gottes Segen sagst, macht mich nachdenklich.
Sabira (58)
(11.04.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.04.18:
Grazie, Sabira, als Klassenkamerad habe den Sanften wenig beachtet und heute kommt er mir oft in denSinn.
LG
Ekki

 harzgebirgler (15.06.21)
es wirkt nur in so gleichsam heil'gen hallen
wie walter wer nicht aus der zeit gefallen.

sehr schön erzählt & gerne gelesen!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.06.21:
Vielen Dank, Henning, irgendwie war Walter aus der Zeit gefallen, fast zu anständig für diese Welt.

LG
Ekki
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