Ich wahre den Schein.. [Oder: Die, die immer lacht.]

Tagebuch zum Thema Schmerz

von  ZornDerFinsternis

Ich bin die Tochter mit den psychischen Problemen.
Wenn der Stress die Luft zum Atmen ist.
Oder die Waage mal wieder verdeutlicht, dass Disziplin ein Fremdwort für mich ist.

Nur die blassen Schnitte könnten vermuten lassen, dass ich früher Langeweile hatte.
Weil ich immer der Außenseiter war.
Aber ich bewahre den Schein.
Für alle.
Halte die bröckelnde Fassade mit den zittrigen Händen, die sich immer wieder nach Hilfe suchend an die Whiskyflasche klammern, aufrecht.

Ich habe eine Arbeit.
Ich mache selten blau.
Dafür bin ich ab und an mal blau.
Ähnlich oft, wie früher die Flecken an meinem Körper.
Strategisch so von dir  platziert, dass nur ich sie sehen konnte.
So wie den Schmerz, den nur ich gefühlt habe.
Wie eine fleischliche Metapher für das Tor zur Hölle.

Ich bin die Tochter mit den schlechten Noten.
Den wenigen und den falschen Freunden.
Ich bin ein gutes Kind. 

Ich habe früh alleine gewohnt.
Ich habe gelernt alleine zu weinen.
Alleine zu lachen.
Einsamkeit war mir immer vertraut.

Eigentlich bin ich die Tochter, die gerne gelacht hat.
Die immer gut genug in der Schule sein wollte.
Die wusste, dass sie etwas erreichen will.
Auf die man stolz sein kann.

Aber ich bin die mit den Tattoos.
Die, die immer Schwarz trägt.
Die, die nach 20-Tage-Arbeitswochen abends in der Dusche weint.
Mit ner Flasche Whisky in der Hand.

Ich bin die Tochter, die den Schein wahrt.
Die Arbeit hat und um die man sich keine Sorgen mehr machen braucht.
Letzteres wäre ich gerne. 
Aber ich fürchte, gute Mütter  wissen es besser.
Nicht alles. Aber vieles.

Egal...

Ich werde den Schein wahren, bis ich sterbe.
Denn ich bin die Tochter, die nicht spricht.
Nicht über alles.
Nicht über das.

Ich bin die Tochter, die Liebe und Mitgefühl gibt.
Sich bis über all ihre Grenzen hinaus quält und zusammenreißt.
Er würde sagen, dass ich eine Lügnerin bin.
Eine Hure.
Der andere und sein Freund auch.
Der aus dem Norden auch.
Der noch immer in der Nachbarschaft wohnt.. sicher auch.

Aber ich bin die Tochter, die sich wieder und wieder neu erdacht hat.
Die, die überlebt hat.
Die, die alles verschwiegen hat.
Die, die sich die Arme zerschnitten hat.
Die, die auf Videos zu sehen ist.
Auf Videos, auf denen sich zwei von denen aus dem Norden an ihr vergehen.

Ich bin die Tochter, die die einzigen echten Freunde mit 15 verlor.
Am Tag darauf die Unschuld. Zwischen Prügeln, Bier und Geschrei.

Ich kenne den Abgrund.
Ich kenne jede Art von Hass und selbstverletzendem Verhalten.
Ich rede nie. Ich schreibe.
So, wie ich nie wirklich lebe - sondern funktioniere.
Erwartungen erfülle..

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Kommentare zu diesem Text


 franky (15.06.19)
Hallo liebe Anni!

Evangelium einer Frau, die sich immer wieder neu erfindet und doch im nächsten Augenblick wieder verlorengeht. Die blauen Flecken, sind Interpunktion einer Leidensgeschichte, die nur ein bewegtes Leben schreiben kann.

Mit viel Spannung gelesen.

Liebe Grüße

Von Franky
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