Wie ich bei Wimbledon scheiterte

Erzählung zum Thema Medien

von  eiskimo

Ich war bei meinen Schweizer Freunden eingeladen, Marie-France und Fabrice, französisch-sprachig. Die wollten mit mir ihren neuen privaten Kino-Raum einweihen, den sie sich unter dem  Dach ihres großzügigen Landhauses haben installieren lassen. Fabrice hatte sich das Wimbledon Tennis-Finale der Herren als würdiges Eröffnungs-Event aus geguckt; das sollte am Sonntag um 15 Uhr beginnen.
Ich beschloss, als Gastgeschenk eine Torte zu machen, eine zum sommerlichen Wetter passende Eissplitter-Torte (Eiskimo!), mit viel weißer Sahne und Baiser (Tennis) und ein paar schönen kandierten roten Kirschen (Schweiz) – ich fand die zwingend, diese Idee!
Marie-France war auch sichtlich erfreut über dieses Mitbringsel, hatte aber absolut keinen Platz, um meine wuchtige Süß-Speise kalt zu halten. Egal – wir stellten die Eiskreation, die ich in einer Art Styropor-Box transportiert hatte, auf der Küchen-Anrichte „kühl“;  mit ein paar Zeitungen umwickelt -  das würde ja wohl reichen.
Und dann freuten wir uns auf den XXL-Bildschirm, die neuen TV-Relax-Sessel und das Cine-Multiplex-Soundsystem – das hatte fast etwas Religiöses!
Leider lief erst einmal eine Menge höchst profaner Werbung und – retardierendes Moment – viel  Gequatsche dilettantischer Sport-Moderator(inn)en. So begann das eigentliche Match deutlich später als 15 Uhr.
Ich hatte nie größeres Interesse für das Hin und Her mit dem gelben Filzball gehabt. Meine zeitliche Vorstellung für das anstehende Finale lag deshalb bei etwa 90 Minuten, alle Päuschen, Seitenwechsel und Siegerehrung inbegriffen.
Nun, der erste Satz zog sich etwas. Fabrice erklärte mir, dass  man zwei Spiele Vorsprung brauchte, um den Satz zu gewinnen, andernfalls gäbe es einen sogenannten Tie-Break. Es gab dann diesen Tie-Break, und nach stolzen 58 Minuten war dieser erste Satz tatsächlich entschieden.
Da mir die beiden Akteure schon älter vorkamen – der eine weit über 30! - machte ich mir keine Sorgen um meine Torte. Die würden das nie und nimmer in dieser Intensität durchhalten. In der Tat lief es im zweiten Satz dann auch Ratz-Fatz. Blöd nur, dass den der andere gewonnen hat; es stand also wieder unentschieden.
Hier erfuhr ich dann, dass über drei Gewinnsätze gespielt wurde, dass also jedem der Finalisten noch zwei Sätze zum Sieg fehlten. Ein 2:1 hätte aber dann auch zum 2:2 ausgeglichen werden können; dann wären tatsächlich drei weitere Sätze nötig – aber nicht bei diesen Temperaturen in Wimbledon, beruhigte ich mich, bei hochsommerlichem Wetter!
Die Faszination des XXL-Bildschirms ließ in der Folge leicht nach, die ewig gleichen Werbe-Einspieler taten ein Übriges, und so kam es, dass ich insgeheim auch öfter mal an meine Eissplitter-Torte dachte. Aber meine Gastgeber waren total aus dem Häuschen, Marie-France kaute sogar ganz ergriffen an ihren Fingernägeln – kein Denken an eine kleine Unterbrechung. Ich versenkte mich also geduldig in die nächsten mehr oder minder langen Ballwechsel, fasziniert auch von den zackigen Auftritten der Balljungen und -mädchen, die da wie Tanz-Mäuschen ums Spielfeld herum postiert waren.
Die beiden Männer auf dem Platz spielten stoisch, fast marionettenhaft ihr Spiel – es gab keinen Einbruch, es gab für meine Gastgeber, das registrierte ich sehr wohl, auch weiterhin keine Sekunde der Entspannung.
Der dritte Satz dauerte wieder deutlich länger. Nach wie vor zwei stoisch, fast perfekte Akteure.  Aber als der vierte Satz sich wieder quälend in die Länge zog, schwante mir langsam Böses. Das konnte nicht gut gehen.
Wer medial auf Ballhöhe ist und die Sport-Highlights der letzten Wochen kennt, hat  inzwischen längst gemerkt, welchem Mega-Event ich da beiwohnte. Er weiß auch, dass es nicht bei vier Sätzen blieb, dass auch der fünfte nicht normal zu Ende ging, nein, dass wieder dieser Tie-Break die Entscheidung erzwingen musste, ein besonderer Tie-Break, bis 12:12!  Legendäres Tennis, sagenhafte fünf Sätze, atemlose Spannung, ein unglaublicher Show-Down... das weiß ich alles, ich war dabei, in XXL und super Sound!
Aber ich guckte mehr auf die pralle Sonne, die auf diesen Centre-Court brannte, auf die vielen Menschen mit ihren Schatten spendenden Kopfbedeckungen, auf ihre Sonnenbrillen, ja, auf diese Hitze .. und dachte an meine ja auch (!) legendäre Eis-Kreation. Deren Schutz vor zu viel Sommer-Wärme hatte nämlich versagt.
Es war deutlich nach 20 Uhr, als wir den virtuellen Tennis-Tempel endlich verließen, als wir wie übernächtigt in die Küche gingen und nun Zeit hatten für meine Höchstleistung. Muss ich es im Detail beschreiben?  Aus der Styropor-Verpackung lief eine breite milchig-weiße Spur – Reste von Sahne. Ich hätte weinen wollen. Meine Gastgeber schienen auch den Tränen nahe – wie rührend! Aber ich begriff rasch: Deren Frust hatte nichts mit meinem so zweitrangigen Mitbringsel zu tun. Sie litten nur so heftig mit dem Tennis-Verlierer.
PS: Wenn ich das nächste Mal zu so einer privaten Kino-Premiere geladen werde, dann gehe ich nur zu Amis. Die haben Riesen Kühlschränke. Und Eishockey wäre viel eher mein Ding.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (19.07.19)
Hi Eiskimo!


Während diesem mega, super Finale zwischen Rocher Federer und Djokovic, war ich mit Claudia auf der Fahrt von Tessin Schweiz nach Feldkirch Vorarlberg, Austria unterwegs. Im SRF wurden sporadisch Einblendungen gebracht. Ich und Claudia fieberten mit Federer mit, ich bearbeitete ununterbrochen meine Fingerknöchel, bis sie schmerzten. Als wir kurz vor acht dann in die Wohnung kamen, konnte ich gerade den letzten Satz im Fernsehen verfolgen.
Ich hatte nie vorhereinen Verlierer so toll siegen sehen.

LG Franky
PS. Den Eiskuchen hätte man mit etwas guten Willen doch während des Spieles als Erfrischung spachteln können;-)

 eiskimo meinte dazu am 19.07.19:
Ja, so wie Dir erging es meinen Gastgebern. Sie schwärmen noch heute von diesem Match. Und den Kuchen, der war gedanklich echt auf Eis gelegt, was letztlich auch nicht tragisch war.
Zwischendurch gab es aber was zu trinken und ein paar Knabbereien - für mehr war definitiv kein Platz.
Dein letzter Satz gefällt mir übrigens sehr gut - das adelt den Schweizer geradezu!
lG
Eiskimo

 TrekanBelluvitsh (19.07.19)
Es hat einen Grund, warum es keinen großen Roman über Sport gibt: Was der Sport bietet an Spannung, Drama, Tragödien, Wendungen, Helden, Gefallenen, Wiederauferstehungen, Schönheit,Gemeinheit, Präzision, Lügen, Wahrheit, Verbrechen und Sonnenaufgängen kann ein Buch kaum leisten.

Wenn doch, ist es ein solches Meisterwerk, dass es Jahre dauerte, es zu schreiben (und auch meist Jahre braucht, um es in seiner Ganzheit zu verstehen). Im Sport braucht es dazu nur einige Spiele, Etappen oder Frames. Darum stehen im Sport Aufwand und Ertrag für den Zuschauer und auch für den Sportler selbst in einem sehr viel besseren Verhältnis. Und bis zum nächsten Wettkampf dauert es zumeist nicht lange. Bis zum nächsten Buch vergehen Jahre.

Das deine Torte an so einem Tag einen schweren Stand hat, naja, das war jetzt keine Überraschung. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich habe den Eindruck, dass in deiner Geschichte eher die Rolle der Torte überinterpretiert ist. Nix für ungut.
;-)

 eiskimo antwortete darauf am 19.07.19:
Deine Hymne auf den Sport finde ich klasse - war mir in dieser Prägnanz bisher nicht so bewusst.
Dass meine Eistorte hier zu viel Raum einnimmt, war durchaus beabsichtigt. Der Sport nimmt die einen halt sehr gefangen, andere bleiben auf kühler Distanz. Was die Leistungen der beiden Cracks natürlich nicht schmälern soll, vor allem die des Älteren!

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 19.07.19:
Ich denke ohne all das hätte der Profisport sich durch die Kapitalisierung schon lange selbst zerstört.
Sin (55)
(19.07.19)
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 eiskimo äußerte darauf am 19.07.19:
Danke, aber ich habe mich wohl damit bei den Tennis-Fans in die Nesseln gesetzt...
LG
Eiskimo
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