Wirklich hingucken

Essay zum Thema Medien

von  eiskimo

Es gibt wieder Sehende im Lande, zumindest ein paar. In Köln haben sich diese Sehenden sogar einen echten Schau-Platz ausgesucht, wo sie mit vergleichsweise spartanischen Mitteln ihr Sehvermögen verfeinern, bisher aber nur in kleiner Runde und reduziert auf Schwarz-Weiß.

Was sie eint, wenn sie sich bei einem Startup im Belgischen Viertel treffen, das ist das Analoge. Ihr Treffpunkt ist nämlich ein Laden für analoge Fotoapparate und analoge Bildbearbeitung. Zu Deutsch: Da gibt´s nix Digitales.

Und was sie in ihrem Verzicht auf die Zaubertricks der Elektronik  bestärkt, ist die Erfahrung:  Richtig sehen kannst du nur mit der langsamen Technik. Das heißt: Als erstes guckst du wirklich hin, prüfst das Motiv auf die bestmögliche Sichtweise, wählst deine Perspektive und den passenden Bildabstand, um dann die entsprechenden Einstellungen an der Kamera vorzunehmen: Vorwahl der gewünschten Verschlusszeit, darauf abgestimmt die Blendenöffnung und – falls nötig – das Wechseln des Objektivs, das Anbringen eines Filters oder auch eines Aufhell-Blitzes.

Mit diesem umfangreichen Vorlauf geht einher, dass man tatsächlich seine gewünschte Foto-Erinnerung durchschaut und tatsächlich als eigene , kreative Leistung auf das Speichermedium Film überträgt. Und dann wartet. Denn der Zelluloid-Film muss nun entwickelt werden – auch ein Prozess, der handwerklich anspruchsvoll ist. Und einmal als Negativ-Streifen vorhanden, muss er dann in der Dunkelkammer per Vergrößerer zum Papierbild verarbeitet werden … auch wieder ein handwerklich anspruchsvolles Prozedere.

Hat das jetzt nicht verdammt lange gedauert?  Richtig! Und entsprechend bewusst wird danach auch das fertige Bild wahrgenommen. Mit wahrlich sehenden Augen. Denn man hat ein Stück Welt begriffen, und man wird dieses Stück auch respektvoll aufbewahren – analog und physisch als selbst gemachten Abzug, aber irgendwo auch im Herzen.

Frage an die Fastfood-Knipser mit ihren Smartphones und der Snapshot-Automatik: Wann habt ihr das letzte Mal wirklich hingeguckt?




Anmerkung von eiskimo:

Was ich mich frage: Hat die Digitalisierung auch das Schreiben verändert?
Gibt es da auch Fastfood-Schreiber und (wieder)  "Schreibende"?

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Kommentare zu diesem Text


 Quoth (17.03.24, 10:01)
Du hast in allem völlig Recht, und dennnoch, ich kann mich nicht aufraffen, die gute alte Mamiya vom Haken, an dem sie hängt, wieder herunterzunehmen (oder zur Vinylplatte oder zu meiner guten alten Remington Reiseschreibmaschine zurückzukehren).
Ich entscheide mich für einen Kompromiss: Auch digital wählerischer und sorgsamer zu fotografieren, zumindest für mich privat die Flut von Bildern zugunsten ihrer Qualität einzudämmen. Und auch meine Kinder dazu aufzufordern. Und wenn ich aufgefordert werde, meinen Speicherplatz zu erweitern (gegen Aufgeld natürlich), weil ich zu viele Bilder habe, werde ich das nicht zun, sondern löschen, löschen, löschen! Vielen Dank für den Anstoß!

Kommentar geändert am 17.03.2024 um 10:05 Uhr

 eiskimo meinte dazu am 17.03.24 um 16:35:
Das ist doch ein sehr guter Kompromiss. Mit der analogen Langsamkeit digital fotografieren. Dabei wissen, was die Kamera eigentlich macht (und wie man sie selber manuell steuern kann).
Dann bleibt alles im besten Sinne überschaubar.
LG
Eiskimo

 Graeculus antwortete darauf am 17.03.24 um 22:17:
Neben der Flut von unbedeutenden Bildern möchte ich auch die erleichterten Möglichkeiten zur Manipulation des Ergebnisses, also des Bildes nennen. Jetzt endlich ist es so weit, daß ein Photo nichts mehr beweist.

 eiskimo schrieb daraufhin am 17.03.24 um 22:31:
Klar, da ist der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Ich sage nur "fotoshop".

 FrankReich (17.03.24, 10:17)
Was nutzt hinterher das bewusstere Hingucken, wenn das Ergebnis jeglicher Begabung entbehrt? 🤔
Vielleicht liegt es überhaupt nicht an der Technik, sondern daran, dass sie in Hinz und Kunz das Vertrauen oder den Glauben weckt, sie ebenso handhaben zu können wie ein Profi. 🙃

Ciao, Frank

 eiskimo äußerte darauf am 17.03.24 um 16:45:
Ich denke, das Spannede passiert vor dem "Schuss". Da baut man sein Bild auf. Und da muss man schon eine Vorstellung haben, was man abbilden will.
Mag sein, dass vielen "Knipsern" so viel Vorlauf zu anstrengend ist.
Die verstehen natürlich auch nachher nicht, was sie eingefangen haben.
LG
Eiskimo

 Regina (17.03.24, 10:40)
Lern bei Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer das Sehen und du wirfst jede alte oder neue Kamera in den Müll.

 eiskimo ergänzte dazu am 17.03.24 um 16:40:
Teil 1 Deines Gedankens: D´accord!  Teil 2:Nein.
Vielmehr das Gelernte dann mit den Mitteln der Fotografie umsetzen.

 Regina meinte dazu am 17.03.24 um 21:30:
und da fällt mir noch Salvador Dali ein. Bei dem habe ich eine ganz neue Art des Sehens kennengelernt.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 17.03.24 um 21:33:
Tolle Antwort!

 Quoth (17.03.24, 18:52)
Du fragst auch nach Änderungen des Schreibens durch die Digitalisierung. Es hat sich ohne Frage verändert, allein schon dadurch, dass durch copy and paste Texte beliebig eingefügt und umstrukturiert werden können. Das hat im öffentlichen und geschäftlichen Brief- und Mailverkehr zum Arbeiten mit immer mehr Textbausteinen geführt, früher waren Zeitmangel und Faulheit von Sekretär:innen  eine verlässliche Bremse, wenn sie Briefe diktiert bekamen: "Fass Dich kurz, Chef:in!" Heute werden Behördenbriefe im Nullkommanichts aus Bausteinen zusammengefügt, weshalb sie auch immer länger werden - zur Freude vor allem von Geflüchteten!

Im Bereich des kreativen wissenschaftlichen und belletristischen Schreibens hat sich mindestens so viel geändert wie damals, als Schriftsteller vom Handschriftlichen zum Maschinenschriftlichen wechselten. Vor allem das Plagiieren ist verführerisch leicht geworden, man denke an Guttenberg u.a., deren Dissertationen voller Plagiate steckten, sowie die Autorinnen Ulrike Guérot und Helene Hegemann. Und durch KI wird sich noch einmal noch mehr ändern. Nicht ohne Grund haben die Drehbuchautoren von Hollywood gestreikt: Die KI saugt sie aus und eignet sich all ihre Erfindungen und Tricks an. Noch befinden wir uns hier bei kV in einer nur halböffentlichen Blase und sind dem Ausgesaugtwerden nicht (?) ausgeliefert - wir sollten das zu schätzen wissen!
Wehmütig denke ich an die Zeiten zurück, in denen ich mit Tipp-ex verbesserte und korrigierte!

Kommentar geändert am 17.03.2024 um 18:56 Uhr
kipper (34) meinte dazu am 17.03.24 um 20:39:
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kipper (34) meinte dazu am 17.03.24 um 20:39:
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 eiskimo meinte dazu am 17.03.24 um 23:19:
@Quoth
Interessant, was Du da an Praktiken ansprichst, sowohl bei der Geschäftspost als auch im kreativen Bereich. Mit der KI wird es sich noch einmal potenzieren, das denke ich auch. Kommunikation, die dann auf diese Hilfsmittel zurückgreift, könnte ein totales Eigenleben entwickeln
@Kipper
Mein Plädoyer für bewusstes Sehen und selbst verarbeitete Bilder zu kontern mit noch mehr Finessen ("Handkameras, die von 20 bis 50.000 Euro kosten"!!) - da müsstest Du doch eigentlich selber merken, dass das fehl geht.
Nicht, weil Leica auf der teuren Optik steht, kriegt das Foto seinen künstlerischen Wert.
kipper (34) meinte dazu am 18.03.24 um 01:30:
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 eiskimo meinte dazu am 18.03.24 um 07:47:
Nur ganz kurz zu deiner Weisheit über die 50er und "fotografische Kunst war da nirgends zu entdecken" : Robert Doisneau "Der Kuss vor dem Hôtel de Ville" oder "Un regard oblique" ... diese "Schnappschüsse" und ein paar andere hängen heute in den großen Museen von Paris, London oder New York. Cartier-Bresson stellte 1955 im Louvre aus, und waren damals nicht auch zufällig "Fotoamateure " wie Anselm Adams, Chargesheimer oder Lartigue schon unterwegs?
Komisch, dass wir die trotz ihrer Billig-Ausrüstung noch heute kennen.

 AchterZwerg (18.03.24, 07:37)
Hallo Eiskimo,
du selber gibst ein gutes Beispiel für einen sorgfältig Schauenden.
Deshalb wirken deine "Schnappschüsse" oft so spektakulär! <3

 eiskimo meinte dazu am 18.03.24 um 07:57:
Danke!  Mein Vater war Berufsfotograf. Von dem habe ich viel abgeschaut, und so ein bisschen ist er immer bei mir, wenn ich "knipse". Sein Lieblingsspruch war "Weniger ist mehr."
un grand salut
Eiskimo

 Mondscheinsonate meinte dazu am 18.03.24 um 08:18:
Ein schönes Hobby. Mein Opa knipste immer mit seiner Leica. Die machte die schönsten Bilder.
kipper (34) meinte dazu am 19.03.24 um 21:39:
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