Für Klaus
„Los, lass uns abhauen.“
„Was? Wie denn? Du weißt doch gar nicht, was passiert ist. Vielleicht fährt die Bahn ja gleich weiter.“
„Schau dich doch `mal um. Alle liegen übereinander.“, kreuz und quer, offene Taschen und zerrissene Tüten, Windeln, Kinderwagen und Menschen und Dinge, die kurz zuvor noch an ihrem Platz gewesen waren. Die S-Bahn hatte offensichtlich eine Notbremsung vollführt. Metall schriekt auf Metall, Geruch nach verbranntem Hartgummi, durchgeglühte Lötstellen, kantige Glassplitter aus stoßsicheren Fensterscheiben. Viele Passagiere hatten blutige Nasen und Augenbrauenläsuren, einige verrenkte Gliedmaßen, vielleicht Brüche. Stefan war mit dem Gesicht auf Günters Schoß geknallt und hatte sich auf die Zunge gebissen.
„Da ist etwas passiert.“
„Ach, was du nicht sagst.“
„Ich sage, wir müssen hier `raus. Ich gehe.“
„Halt, warte. Wohin denn?“
Stefan war aufgestanden und stieg über die am Boden liegenden und sitzenden Passagiere zur Tür. Er zog den Hebel zur Notöffnung des Schiebemechanismus´, zerrte die Flügel mühsam auseinander und kletterte kurzerhand nach draußen in den Schienenschotter. Stefan sah nach vorne zum Triebwagen, dann schaute er nach hinten zum Heck. Er hob kurz die Schultern und winkte Günter, der aus dem Fenster zu ihm herausschaute.
„Was soll das?“, gestikulierte Günter.
„Komm doch. Wir gehen.“, rief Stefan und machte ein Handzeichen.
„Was?“
„Wir gehen jetzt.“
Günter stierte kurz vor sich, nahm seine klobige Zeugtasche mit Klappverschluss und kletterte zum Ausgang vor.
„Hey, Mann, Günter, was ist das denn?“
Günter sah von der Schwelle zu ihm hinunter.
„Was denn?“
„Hier unter dem Zug. Ey, da liegt noch `was, ein Schuh, und da.“
„Warte, ich komm´ `runter.“, ächzte Günter und ließ sich unbeholfen ins Gleisbett gleiten. Stefan zeigte mit dem Finger auf etwas unter der S-Bahn.
„Geil, da ist jemand vor unseren Zug gesprungen. Da liegen noch Teile.“
„Tatsache! Das ist ja abartig.“
Stefan beugte sich unter den Waggon und schob die Wackersteine beiseite.
„Was machst du denn da.“
Und – zack – hieb Stefan ihm ein zwischen den Rädern steckendes Bein über den Buckel.
„Au! Du Arsch! Spinnst du!“
Stefan lachte glucksend.
„Guck doch, ich hab´ ein Bein. Dreiviertel von einem Bein.“
„Spinnst du, das kannst du nicht machen. Warte!“
Günter bückte sich und klatschte Stefan einen Unterarm ins Gesicht.
„Da hast du! Hier, noch eine.“, und hieb ihm den Unterarm mit der leblosen Hand daran auf die andere Wange.
„Immer schön die andere hinhalten.“
Stefan ließ das Bein los und wühlte zwischen dem Schotter.
„Hier! Mahlzeit! Hau dir das `mal `rein.“, kreischte er Günter an und schmiss ihm eine Ladung Gedärme vor die Brust.
„Igitt, das ist ja eklig, du Schwein.“
An den Fenstern schauten die Passagiere nach draußen. Einige filmten mit ihren Telefongeräten.
„Hey,“, rief Günter und zeigte mit einem Finger, der nicht ihm gehörte, „guck dir die Leute an. Morgen sind wir im Fernsehen.“
„Günter, komm wir hauen ab. Davorne kommt der Schaffner gelaufen.“
Er sah in die Richtung, in die Stefan mit einer Leber oder so etwas zeigte.
„Stimmt. Weg hier. Nein, warte.“
„Was ist denn?“
„Ich nehm´ die Schuhe mit.“
„Was?“
„Die Schuhe, ich glaub´, der hatte meine Größe.“
„Dann mach´ schnell.“
Günter klaubte die Schuhe aus dem Schotter und stopfte sie in seine Zeugtasche.
„Hihi, mit den Füßen dran.“
Stefan warf die Gedärme oder Organe oder was das war durch die geöffneten Türflügel. Ein gedämpftes Ah und Oh raunte durch die Sitzreihen.
Stefan und Günter, die Tasche unter dem Arm, von der hinten weiße Stofffetzen abhingen wie Klopapier, erklommen die Böschung und waren bald im Feierabenddämmer verschwunden. Der Zugführer sah vorsichtig vom Gleisbett in den Waggon hinein, so dass sein Kopf auf Fußbodenhöhe zu schweben schien. Ein Blitzlicht blendete ihn und er musste sich die Hand vor die Augen halten.
© Rainer M. Scholz