Ich musste mich durchschlagen

Erzählung zum Thema Kampf

von  EkkehartMittelberg

Es ist eigentlich nichts Besonderes, dass sich jemand in seinem Leben „durchschlagen“ muss, wie man umgangssprachlich anstatt durchsetzen sagt, aber ich musste es in wörtlichem Sinne. Das kam so:
Mein Vater war in meiner Heimatstadt Lehrer an einer Volksschule (so sagte man damals) in einer Bergarbeitersiedlung. Ich besuchte dieselbe Schule, an der er unterrichtete.
Bergleute waren in den Fünfziger Jahren hoch angesehene und gut verdienende Arbeiter und entsprechend gepflegt waren auch ihre Siedlungen in meiner Heimatstadt. Aber es gab zwei Ausnahmen, die als Blocks bezeichnet wurden. In ihnen wohnten problematische Familien, deren Ernährer schlecht integriert waren und ihre Häuser zum Beispiel wegen Trunksucht verwahrlosen ließen. Einer dieser Blocks hieß ironischer Weise Goethe-Block. Durch ihn führte mein Schulweg und ich konnte ihn nicht umgehen.
Mein Vater war ein strenger Lehrer und einige seiner Schüler waren nicht gut auf ihn zu sprechen, auch Schüler aus dem Goethe-Block, denen nicht verborgen blieb, dass ich morgens mit ihm durch eben diese Siedlung zur Schule ging.
In meiner Grundschulzeit endete mein Unterricht meistens viel früher als der meines Vaters und mir blieb es nicht erspart, meinen Heimweg allein durch den Goethe-Block machen zu müssen. Da lag es nahe, dass ein paar „Spezis“ ihre Antipathie gegen meinen Vater auf mich übertrugen,  mir auflauerten und mir den Weg versperrten. Sie bildeten eine Kreis um mich, bedachten mich mit üblen Schimpfworten und stießen mich so lange von einem zum anderen, bis ich mich entschloss,  meine Fäuste einzusetzen. Genau das wollten sie erzwingen. Sie waren insofern nicht unfair, als nur einer gegen mich kämpfte und sie ließen mich nach einigen Hieben laufen, wenn sie spürten, dass ich mich tapfer wehrte.                                                                                                                      Das wiederholte sich einige Male und hörte schließlich auf, weil sie begriffen hatten, dass ich nicht das feige, verzärtelte Lehrersöhnchen war, das sie in mir vermuteten. Sie riefen mir zwar immer noch Beleidigungen nach, aber ich konnte den Block passieren, ohne mich schlagen zu müssen.
In dieser Zeit der Angst lernte ich, dass es Gefahren gibt, denen man nicht ausweichen kann und dass man respektiert wird, wenn man sich ihnen mit Fortune stellt. Spätere Kämpfe erforderten freilich mehr Fantasie als die damaligen mit den Fäusten.

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Kommentare zu diesem Text


 Thomas-Wiefelhaus (15.11.20)
Ganz anders, als im Erziehungsheim. Beleidigungen und gar Mobbing vor dem ersten Schlag waren unüblich. Das "Peng" kam zuerst.
Erklärungen, weshalb Jungen andere schlugen, kamen grundsätzlich hinterher!
Beispiel beim Frühstück: Peng! Peng!
"Du hast eine Gabel benutzt, die schon ein anderer benutzt hat." - Oder so.

Stilles Mobbing kam nur von Schwächeren, die sich nicht trauten zu schlagen und heimliche Sabotage begingen..
An lautes Mobbing kann ich mich kaum erinnern. War eigentlich ganz angenehm. Das habe ich erst später kennen gelernt!
Meine Erfahrung

Kommentar geändert am 15.11.2020 um 00:24 Uhr

Kommentar geändert am 15.11.2020 um 00:35 Uhr

Kommentar geändert am 15.11.2020 um 00:36 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Ja, es gibt Unterschiede, wie Aggressionen ausgelebt werden. Vielleicht hatte im Erziehungsneim der, der ohne Vorankündigung zuschlug, Vorteile.

 Thomas-Wiefelhaus antwortete darauf am 15.11.20:
Klar, wer zuerst und überraschen zuschlägt, hat den halben Kampf gewonnen. Meistens ging es um die Hackordnung; ein Kampf unter etwa Gleichstarken.

Bei dem Mobbing, das in heutigen Schulen und auch früher herrschte, könnte man fast denken, eine Erziehungsheim sei eine "Heile Welt!"
Das extremste Mobbing fand wohl in Kinderheimen statt , von lieblosen Erwachsenen.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 15.11.20:
Hier fehlen mir zwar eigene Erfahrungen, ich halte es aber für wahrscheinlich, dass man deine Beobachtungen verallgemeinern kann.

 Horst (15.11.20)
Deine Erzählung erinnert mich stark an den Roman des amerikanischen Autors J.D. Salinger, "Der Fänger im Roggen". Es ist nur dass eine Werk, was er wohl gechrieben hat, gilt es aber unter Literaten, als genial.

Kommentar geändert am 15.11.2020 um 02:14 Uhr

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 15.11.20:
Merci, man kann nicht alles gelesen haben, Horst. Ich habe "Der Fänger im Roggen" auf meine Lektüreliste gesetzt.

 FrankReich ergänzte dazu am 15.11.20:
@Horst
Obwohl das nicht ganz korrekt ist, werden die in einem Buch zusammengefasste Kurzgeschichte und Novelle "Franny und Zooey" oftmals auch als Roman bezeichnet. Messen lässt sich dieses "Spätwerk" von Salinger mit dem "Fänger im Roggen" jedoch auf jeden Fall.
@Ekki
Meiner Meinung nach besitzen beide Werke einen ebenso autobiographischen Hintergrund wie Deine Erzählung zweifellos autobiographisch ist, "Der Fänger im Roggen" erinnert mich allerdings mehr an "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" von Robert Musil, da beider Überbau fiktiver Natur ist und die Romane "internat/ionale" Wurzeln haben.

 harzgebirgler (15.11.20)
respekt erfährt
nur wer sich wehrt
was umgekehrt
angriffslust nährt

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Gracias, Henning, das hast du richtig beobachtet. Der Respekt hat seinen Preis.
LG
Ekki

 blauefrau (15.11.20)
Wenn wir sonntags zur Kirche gingen(gehen mussten), gingen wir an einem Eckhaus vorbei, dessen Nachwuchs ein wenig älter als wir durch Äußerungen über unsere Wohlerzogenheit eine Art Spießrutenlauf mit uns veranstaltete.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Grazie, blauefrau, wenn dann auch noch der Pastor von der linken Wange predigt, die man auch noch hinhalten soll, kann man sehr aggressiv werden.

 Dieter_Rotmund (15.11.20)
üblenSchimpfworten -> üblen Schimpfworten

Ist das fiktiv oder autobiographisch?

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 15.11.20:
Komische Frage!
Vorsicht: Dieter mag nicht autobiographisch.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.11.20:
Lieber Ekkehart, lass dich durch Thomas nicht verunsichern.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
hallo Dieter, ich halte es für unwahrscheinlich, dass jemand so einen Text außerhalb des Rahmens eines Romans erfindet. Also der Text ist autobiographisch.

 FrankReich meinte dazu am 15.11.20:
Der Einzige, der hier verunsichern möchte, scheinst Du zu sein, Dieter, denn Deine Eingangsfrage könnte sich sogar ein Drittklässler beantworten, allerdings hat Dir auch Thomas schon indirekt die Antwort geliefert. 😂😂
Al-Badri_Sigrun (61)
(15.11.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Grazie Sigi, wenn man das liest, könnte man ins Zweifeln geraten, ob nicht manchmal Schläge jemanden zur Vernunft bringen können wie die Zwillingsjungen, die dich später beschützten.
Herzliche Grüße
Ekki

 Graeculus (15.11.20)
Dieser autobiographische Text weckt unweigerlich Erinnerungen. Das spricht dafür, daß etwas Allgemeingültiges in ihm enthalten ist - zunächst die Feststellung, daß die Kindheit keine bzw. nicht nur eine Idylle ist.

Merkwürdigerweise waren die Schläger, denen ich in meiner Kindheit ausgesetzt war, 'die Evangelischen'. Fast so, als ob ich im 16. oder 17. Jahrhundert aufgewachsen wäre. Der Hintergrund bestand darin, daß unsere Volksschule in einen evangelischen und einen katholischen Zweig - strikt getrennt - gegliedert war. Wehe, man begab sich (und sei es versehentlich) als Katholik auf den evangelischen Teil des Schulhofes ... oder begegnete seiner Population in der Freizeit auf dem Bolzplatz!
Als Brillenträger ("Da kommt die Brillenschlange!") hatte ich eine instinktive Abneigung gegen Prügeleien. Unseren Optiker mögen sie erfreut haben.

Kommentar geändert am 15.11.2020 um 14:48 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Gracias Graeculus, mir fielen sofort weitere Beispiele dafür ein, dass Kindheit nicht nur Idylle ist. Aber ich möchte mich hier noch einmal zu dem religiösen Fanatismus äußern, der in meiner Heimatstadt gravierend war. Einer der gruseligen Spüche, die ich auf dem Schulhof öfter hörte, lautete so: "Katholische Ratten mit Scheiße gebacken, mit Pisse gerührt, zum Himmel geführt". Die katholische Fraktion zitierte ihn wortgleich gegen die Evangelen.
So etwas habe ich in meiner späteren Praxis als Lehrer überhaupt nicht mehr gehört. Es gibt also tatsächlich auch Fortschritte der Toleranz.

 Graeculus meinte dazu am 15.11.20:
Wo in aller Welt kam diese konfessionelle Feindschaft her?
Ich kann mich nicht erinnern, daß wir von Religionslehrern bzw. Geistlichen dazu aufgehetzt worden wären. Natürlich, wir waren Glieder der alleinseligmachenden Kirche; reicht dioese Botschaft in Kinderköpfen schon, um Haß auf "die anderen" zu erzeugen?
Was soll man dann heute von islamisch erzogenen Kindern erwarten?
Agnete (66)
(15.11.20)
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 Enni (15.11.20)
Lieber Ekki,
das ist sicher eine Erfahrung, wie sie damals des Öfteren vorkam, mitnichten eine schöne.
Die Jungs waren eventuell frustriert und mit ihrer Situation unzufrieden, dann machtv man sich leicht selbst "größer", indem man andere klein macht.
Ich sehe aber Änderungen zur heutigen Zeit. Damals kämpfte nur einer gegen dich und sie ließen ab, als du "genug" hattest.
Ich habe es oft erlebt, dass sich Kids nur in der Gruppe stark fühlen und auch noch draufschlagen, wenn einer am Boden liegt.

Ich glaube früher wie heute - das Wesentliche war/ist, dass man Courage zeigt, sich nicht duckt. Und das hast du ja mit Bravour bewiesen. Opfer werden vor allem die Schwachen.
Liebe Grüße
Enni

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Merci, Enni, ich teile deine Beobachtungen zu der heutigen Prügelszene vorbehaltlos und auch deine Zusammenfassung, dass man ihr, wenn überhaupt, nur mit Courage Einhalt gebieten kann.
Liebe Grüße
Ello

 TassoTuwas (15.11.20)
Hallo Ekki,
schlagende Argumente (linke Grade, rechter Aufwärtshaken) sind sog. Wirkungstreffer
Und Ruhe ist!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Hallo, mein Freund, es gibt Tage, da würde ich auch gern eine linke Gerade auf den Computerschirm setzen . Ich fürchte nur, dass die, die ich damit zur Ruhe bringen möchte, lauthals lachen, falls sie es erfahren, während die Mattscheibe leise scheppert. :)
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (15.11.20)
Die Kunst ist, herauszufinden, wann das kämpfen sich lohnt und wann nicht - und wie.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Merci, da hast du recht. Die Kunst ist sehr kompliziert. Um auf mein "Durchschlagen" zurückzukommen, ich wusste erst, nachdem sie mir die Hucke vollgehauen hatten, dass sich mein verzweifelteer Widerstand gelohnt hatte, weil sie endlich von mir abließen.

 GastIltis (15.11.20)
Hallo Ekki,
ein sehr erbaulicher Text. Mit ähnlichen Kräftemessübungen kann ich nicht aufwarten, obwohl uns das Durchschlagen unserer Familie, d.h. meiner Mutter, meiner etwas älteren Schwester und mir quasi durch die Kriegswirren dadurch auferlegt worden war, dass mein Vater die Gefangenschaft in der Nähe von Kiew nicht überlebt hat, was wir erst Jahre später erfahren haben. Wenn ich z.B. daran denke, dass ich als Junge bei unserem Fleischer den Hühnerstall ausgemistet habe, um etwas Dung zu erhalten, dann bekomme ich heute noch Albträume. Oder wenn ich mich erinnere, dass ich erwischt wurde, als ich mit meiner Sichel Gras auf Fremdflächen für die Kaninchen gemäht hatte und den kleinen Sack dann ausschütten musste, das war schon bitter. Dann hatte ich noch eine „Lieblingsbeschäftigung“: das Ausschöpfen unserer Jauchengrube und das Ausbringen im Garten. Wir hatten einen großen Garten mit guten Erträgen.
(Als ich viel später in Dresden mal einen Studienkollegen besuchte und mich in Anwesenheit seines Vaters über den üppigen Wuchs der Kulturen in seinem Garten bewundernd äußerte, meinte der: „Da hilft kein Beten und Singen, da hilft nur Scheißen und Düngen!“ Wie wahr, dachte ich da.
Sei herzlich gegrüßt vom alten Freund Gil, dem das Durchschlagen aber auch manchmal Spaß gemacht hat!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Merci, Gil, es sind eindrucksvolle Beispiele des Durchschlagens, die du aus deiner Jugend erzählen kannst. Wir sind sicher nicht die einzigen Nachkriegskinder in Ost und West, die mit vergleichbaren Erlebnissen aufwarten können. Aber ältere Menschen wie wir, die sie aus persönlichem Erleben erzählen können, sterben allmählich weg. Schon das wäre Grund genug, sie nicht zu verschweigen.
Herzliche Grüße
Ekki
Nimmer (45)
(15.11.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.20:
Lieber Nimmer, das mit dem Narrativ klingt sehr intellektuell, aber so kompliziert ist die Geschichte nun auch wieder nicht .Ich rede ja nur von meinem Lernprozess, dass man respektiert wird, wenn man sich Gefahren mit Fortune stellt, wobei Fortune schon sagt, dass Glück dazu gehört. Dies ist eine Erzählung und keine Fabel, deren Schluss sich verallgemeinern lässt.
Ich kann dir heute auch nicht mehr so genau sagen, weshalb die Menschen in diesen Blocks schlecht integriert waren. Es gibt dafür eine einfache Erklärung. Zu dieser Zeit wurden Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordnung und Sauberkeit kritiklos akzeptiert. Wer da nicht mitzog, galt als jemand, dersich nicht integrieren wollte.
Nimmer (45) meinte dazu am 16.11.20:
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Sätzer (77)
(16.11.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.11.20:
Merci, Uwe, ja,das war nicht angenehm. Ich war deshalb froh, aufs Gymnasium wechseln zu kömnen.
LG
Ekki
Rita (56)
(16.11.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.11.20:
Liebe Rita,
wie schön, dass du angefangen hast zu schreiben. Die Resonanz hier zeigt, dass du das Herz vieler Menschen erfreust.
Liebe Grüße
Ekki
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