Goethes Mailied stellte eine wichtige Weiche in meinem Leben

Bericht zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Ich wollte die Arbeit für mein 1. Staatsexamen schreiben und dachte über ein originelles Thema nach. Ich wusste, dass die meisten Examenskandidaten über einen Dichter ihrer Wahl schrieben. Mir stand der Sinn nach einem Thema, das die Prüfungskommission überraschen könnte.
Ich hatte bemerkt, dass die Literaturwissenschaft einen tatsächlichen Methodenwandel oft nur vortäuscht, die Bezeichnungen austauscht und den alten Wein in neuen Schläuchen serviert. Ich dachte, dass man das am besten an ein und demselben Beispiel demonstrieren könnte und schlug als Thema „Goethes Mailied im Methodenwandel der Literaturwissenschaft“ vor .
Das Thema wurde akzeptiert. Es fiel 1964 aus dem Rahmen des Üblichen und wurde mit entsprechend guter Benotung honoriert. Das machte mir Lust darauf, meine Erkenntnisse auf eine breitere Basis zu stellen. Ich wollte über „Goethes Sesenheimer Lyrik im Methodenwandel der Literaturwissenschaft" promovieren. Ich fand sofort einen Doktorvater für das Thema und auch einen Korreferenten.
Man hätte letzteren, einen "Altgermanisten", für einen weltfremden Stubengelehrten halten können.  Das war er aber nicht, denn er hatte ein Näschen für die Zukunft, die der Germanistik ab 1966 blühte, als der unpolitische Betrieb von der sog. Neuen Linken gründlich in Frage gestellt wurde. Der schlaue Professor kommentierte das aber nicht, sondern zog für mich überraschend seine Zusage als Korreferent zurück mit der Begründung,  man könne über den Methodenwandel einer Wissenschaft erst schreiben, wenn man viel Erfahrung gesammelt habe, am besten, wenn man emeritiert sei. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und konnte mir den Sinneswandel nicht erklären. Heute glaube ich, dass der gewiefte Fuchs ahnte, dass künftig politisierte Studenten ein besonderes Augenmerk auf Altgermanisten richten würden, wenn diese sich um Methodenwandel in der Literaturwissenschaft kümmern würden. Also ließ er die Finger von meinem Vorhaben  Es gab keinen weiteren Professor, der mich kannte und den ich als Korreferent hätte gewinnen können.  Meine Kommentierung des Mailieds verflüchtigte sich zunächst einmal in die Disharmonie des Scheiterns.
Was tun? Ich hatte noch keine Lust auf Schuldienst und Berufsarbeit. Ich fuhr damals  in die Universitätsseminare mit dem Bus, wo ich häufig mit Bildzeitungslesern konfrontiert wurde, und machte mir Gedanken über den Erfolg dieser Boulevard-Zeitung. Es war ein spontaner Beschluss über die Sprache dieses Mediums zu promovieren. Diesmal brauchte ich nicht lange nach einem Doktorvater und Korreferenten zu suchen, da allen die Bedeutung des Themas einleuchtete. Zu meiner Überraschung hatte noch niemand über "Wortschatz und Syntax der Bild-Zeitung" geschrieben. Sogleich nach Anmeldung des Themas erhielt ich ein Promotionsstipendium von der Stiftung Volkswagen.
Ich bin dem Mailied aber treu geblieben und habe das Thema der verhinderten Dissertation 1976 im Klett-Verlag "Methoden- und Rezeptionswandel in der Literaturwissenschaft am Beispiel der Sesenheimer Lyrik Goethes" veröffentlicht.
Die lange Beschäftigung mit Goethes Lyrik hat schließlich dazu geführt, dass ich selbst versucht habe, Gedichte zu schreiben.

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Kommentare zu diesem Text


 Willibald (06.07.21)
Wer noch weiter schauen will:





valete

Kommentar geändert am 06.07.2021 um 08:17 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.07.21:
Merci. Ich bin von den Socken, Willibald. Es gibt zwei
Möglichkeiten. Entweder schläfst du in einer Bibliothek oder du besitzt beide Bücher. :)
Beste Grüße
Ekki

Antwort geändert am 06.07.2021 um 09:06 Uhr

 Willibald antwortete darauf am 06.07.21:
Bin seinerzeit im Baltmannsweiler-Taschenbuch auf Ekki gestoßen.
Cordialimente

 Graeculus schrieb daraufhin am 06.07.21:
Ein origineller und nicht nur den Autor erfreuender Kommentar.

 Dieter_Rotmund (06.07.21)
"Bozlevard-Zeitung" ?

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 06.07.21:
Danke, Dieter. Das Holzauge ist nur wachsam, aber dein Adlerauge kontrolliert den gesamten Boulevard.
Dieter Wal (58) ergänzte dazu am 06.07.21:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.07.21:
Grazie, Dieter, als der Knabe Ekki Ostereier suchte, brauchte er etwas länger. :)

 Didi.Costaire (06.07.21)
Ja, so kann das gehen... Goethe im Sinn und die BILD im Lebenslauf.
Ein interessanter Bericht!
Schöne Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.07.21:
Gracias, Dirk, ich lese noch gelegentlich Goethe. Mein Bedarf nach BILD war nach 1966 gestillt.
Liebe Grüße
Ekki

 FrankReich (06.07.21)
Wahrscheinlich handelte der Professor lediglich nach dem Prinzip "Fack ju Göhte". 😂😂

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.07.21:
Merci, Frank, ja, manchmal sind die Dinge einfacher, als man annimmt.

LG
Ekki
wa Bash (47)
(06.07.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.07.21:
Danke, wa Bash. Über den Universitätsbetrieb der Jahre 1964-1966, als noch der Muff von tausend Jahren unter den Talaren herrschte, gibt es wenig zu lesen. Dazu wollte ich einen kleinen Beitrag leisten.

 harzgebirgler (10.07.21)
der BILD einst so aufs maul zu schauen
mocht' der'n leser kaum erbauen
denn die schaut' ja dem volk auf seines
und nie auf goethes oder heines.

lg
henning
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