Um mal nicht von P. zu reden

Bericht zum Thema Verarbeitung/ Verdrängung

von  eiskimo

Wir hatten Freunde zu Besuch, und wir wollten ein Mal nicht von P. reden und von seinem alles überschattenden Krieg. Mein Rezept:

„Man lege in die Mitte des Tellers ca. 150 g Kartoffelsalat. Links und rechts daneben je 75 g Heringssalat und Fleischsalat. Die Mayonnaise evtl. mit Milch oder Yoghurt etwas verdünnen, damit eine halb flüssige Sauce entsteht.  Die hartgekochten Eier halbieren und jeweils drei halbe Eier mit der Eigelbseite nach oben auf den Kartoffelsalat legen. Die Mayonnaise über die Eier streichen und mit Lachs(ersatz)schnitzeln, falschem Kaviar, aufgeschnittenen Essiggurken und Petersilie garnieren.“

Wer sich in der rheinischen Küche der 60er Jahre auskennt, wird sie  erkannt haben, die Russeneier. (Ja, die gab es wirklich!) Auch unsere Freunde hatten dieses Kaltgericht sofort vor Augen … und so redeten wir tatsächlich nicht über Flugverbotszonen, Stinger-Raketen und Fluchtkorridore, sondern  von früher: Über das Kaufhaus Hanemann und seine Imbiss-Abteilung im vierten Stock, wo uns unsere Mütter nach anstrengendem Schuhkauf oder dem Anpassen der Zahnspange diese Russeneier spendierten, wie gesagt:  in den 60er Jahren.
Das war, wenn wir damals mal mit in die Stadt durften, immer ein Fest. Denn wir liebten Russeneier. Dass dieses Gericht so hieß, war dabei völlig unerheblich. Keiner von uns verband damit irgendetwas Politisches.

Rosa, die in der DDR aufgewachsen ist, erklärte allerdings, dass  es bei ihnen damals keine Russeneier auf der Karte gab – „von wegen!“, wie sie noch bedeutungsvoll nachschob.

Wann und warum die Russeneier von den rheinischen  Speisekarten verschwanden, das konnten wir nicht ergründen – zu kalorienreich? Verdrängt von Pommes und Currywurst? Von Willy Brandts Ostpolitiik?

Wie auch immer – zum Verdrängen der Angst machenden Nachrichten aus den Kriegsgebieten waren die Russeneier noch einmal gut.
Und ich gebe zu: Das ist schon ein bisschen verrückt.


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Kommentare zu diesem Text


 Tula (21.03.22, 01:16)
Hallo eiskimo
Uns bleibt dennoch russischer Salat, Russisch-Brot und natürlich der Wodka.
Ja, die Kultur sollte schon bleiben.

LG
Tula

 eiskimo meinte dazu am 21.03.22 um 17:08:
Und mit genügend Wodka in der Birne trauen wir uns auch ans Russisch Roulette...
Nastrowje
Eiskimo

Antwort geändert am 21.03.2022 um 17:08 Uhr

 Regina (21.03.22, 06:14)
Wie wäre es mal mit Borschtsch: Sauerkrautsuppe mit Rindfleisch, Speck und roter Beete?

 Graeculus antwortete darauf am 21.03.22 um 16:51:
(rote Bete)
Taina (39)
(21.03.22, 06:48)
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 lugarex schrieb daraufhin am 21.03.22 um 07:03:
Ja, genau, meine Mutter Jg. 1903, ihr Kochbuch, s. meinen Kommentar, geschrieben in gleicher Zeit wie Du...
Taina (39) äußerte darauf am 21.03.22 um 08:06:
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 lugarex (21.03.22, 07:00)
...und bei uns ist aus beliebten russischen Eier über Nacht und ohne Vorwarnung "Henry Ei" geworden. Im Kochbuch von etwa 1930 oder noch älter habe ich Rezept für *Russische Eier" gefunden und als 10-jährig gierig studiert. Tschaikowskij wir zum Teeman unbenannt?

 Graeculus (21.03.22, 16:53)
Eine reizvolle Aufgabe, über P. (schon im Titel erwähnt) zu reden, ohne über P. zu reden.
Zu unserem Glück müssen wir hier nicht die Erwähnung von P. vermeiden, so wie in Rußland die Erwähnung von "Krieg" verboten ist.

Die russischen Eier kenne ich noch. Ja, wo sind sie geblieben?

 eiskimo ergänzte dazu am 21.03.22 um 17:12:
Da, wo auch die Vorläufer der "Schaumküsse" gelandet sind...

 Dichter.Zeitgenosse. (21.03.22, 17:15)
Gepanschte Mayonnaise? Typisch Deutsch. Wenn das ein Franzose läse.

Ich kenne das Gericht russische Eier ohne Kartoffelsalat und mit echter, selbstgemachter Mayonnaise, wenn man sie flüssiger will, hört man eben etwas früher auf zu rühren. Meine Familie kommt übrigens nicht aus dem Rheinland. Bei uns gab es das an Silvester.
Agnete (66)
(23.03.22, 09:59)
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 eiskimo meinte dazu am 23.03.22 um 10:23:
Danke! 
Schade, dass alles Russische im Moment sehr bitter schmeckt...
LG
Eiskimo
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