TIGERRATTE SPIEGELT SICH
Erzählung zum Thema Entwicklung(en)
von uwesch
Vorwort
Diese Erzählung ist so eine Art Selbsterfahrungsarbeit, die sich im Lauf der Jahre immer mal wieder verändert hat. Ich gab dem Protagonisten den Namen Tigerratte, weil ich persönlich immer auch gegenüber meinen eigenen Erinnerungen einer gewissen Skepsis Raum geben möchte. Erinnerungen können trotz oder auch wegen durchlaufener Selbsterfahrungsprozesse das Eigenbild verschieben oder verzerren. Insofern glaube ich, dass jeder Mensch sich in einer irgendwie gearteten Form – hier beim Schreiben – inszeniert.
Die Entscheidung
Mit 56 Jahren beschloss er, sich Tigerratte zu nennen, Distanz zu schaffen zwischen Altem und Neuem.
Einerseits könnte seine Lebensentwicklung psychologisch fundiert und kausal oder auch “Im Hier und Jetzt“ hergeleitet werden. Ein Heer von Analytikern und Therapeuten lieferte entsprechende Verfahren und Modelle. Tigerratte lebte mehrere Jahre mit einer alkoholkranken Therapeutin zusammen. Doch unklar war damals geblieben, ob die Reize wahr waren, die Reaktionen über Reizreaktionsmechanismen zu bestimmten Reaktionen führten. Oder ob ein Therapeut nicht nur seine “Wahr“nehmung bewusst oder unbewusst in Form von Reizreaktionsmechanismen hat einfließen lassen. Eines stand fest: Das Alkoholproblem ließ sich nicht lösen, also war Trennung angesagt.
Andererseits könnte Tigerrattes Leben subjektiv als Lebensmosaik mit mehr oder weniger Steinen oder Steinchen dargestellt werden, indem zumindest grobe Konturen erkennbar wären.
Weiter wäre auch eine vernetzte Struktur der Darstellung möglich. Dieses würde am ehesten dem Zeitgeist entsprechen. Doch, wenn ein Problem zu komplex zu werden droht, erscheint es sinnvoll, es in einzelne Module zu zerlegen. Vieles wird so überschaubarer, allerdings auch einer gewissen Willkür unterworfen.
Tigerratte wird versuchen, sein Leben so darzustellen, dass er nicht zu schlecht dabei abschneidet. Er wird eher dahin tendieren, Miss- und Wohlstände auf den Punkt zu bringen, vorübergehende Zustände und Prozesse logisch und stringent darzustellen. Er wird korrektiv dazu subjektiv gefärbte Wahrnehmungen, Handlungen, Stimmungen, Bilder, Empfindungen, Erlebnisse, Ideen und Skurrilitäten abbilden. Vielleicht entstehen so die wechselnden Muster eines bunten Kaleidoskops von 55 Nachkriegsjahren, in denen offiziell keine Kriege in Deutschland stattfanden, wenn einmal Ehe-, Banden-, Migranten- und andere weniger bedeutsame Kleinkriege ausgenommen werden. An dieser Stelle kann zunächst nur konstatiert werden, dass verdrängt, demonstriert, angepasst, psychologisiert und computert wurde. Dieses hatte allerdings Tigerratte so weit beansprucht, dass es durchaus Berichtenswertes gibt.
Er ist sich darüber klar, dass der interessierte Leser (und natürlich die Leserin) sich entweder langweilen, die Nase rümpfen oder auch die synergetischen Wirkungen und dialektischen Impulse spüren, wenn er Modul für Modul erliest. Vielleicht amüsiert ihn auch einfach nur ein bestimmter Baustein, in dem er sich wiederfindet oder über das er einfach nur lachen kann oder traurig ist. Es sei an dieser Stelle nur so viel verraten, dass entscheidende Lebensthemen behandelt werden.
Ehen
In erster Ehe – die Beziehung dauerte immerhin 22 Jahre – war er mit einer Volks- und Realschullehrerin liiert. Die silberne Hochzeit hatten sie jedoch glatt verpasst. Sie war streng, blond und blauäugig. Na klar, so gehörte sich das wegen der arisch angehauchten Eltern. Das gemeinsame Ergebnis war eine blonde, blauäugige Tochter, die auf keinen Fall Lehrerin werden wollte. Später ist sie doch eine geworden. Diese Erstfrau hat sich einen jüngeren Willfährigeren gegriffen. Tigerratte war froh, dass er da nicht mehr mitmischen musste, diese Gestaltung beschauend.
In zweiter Ehe war Tigerratte mit einer Diplompsychologin und Therapeutin freiwillig verhaftet. Sie hatte so Sprüche drauf wie „Verständnis blockiert“, forderte allerdings ständig Verständnis für ihre alkoholischen Ambitionen und Exzesse. Das wurde ihm nach viel Geduld und Hoffnung eines Tages zu nervig, so dass er diesem unliebsamen Geschöpf die rote Karte zeigte. Verständnis blockierte, er hätte rechtzeitig diesen Glaubenssatz inhalieren müssen. Sie zog dann wutentbrannt von dannen und war das erste Mal nach ihrer dritten Ehe auf sich selbst angewiesen, erwachsen zu werden nach schwieriger Kindheit.
Tigerratte, wieder allein, musste in stillen Stunden ab und zu an seine Herkunftsfamilie denken.
Abschied vom Vater
Vater war groß, herrisch, blond, mit stahlblauen Augen, wie ein Arier eben bei den Nazis auszusehen hatte. Über diese unselige Zeit hatte er nie ein Wort verloren, doch Juden verachtet, was er manchmal durchblicken ließ. Als er starb, hatte er 35 Paar Schuhe hinterlassen, sie in seinem Testament ihm, dem älteren Sohn vermacht, denn er hatte die gleiche Größe. In Schuhen wohlgemerkt. Es waren alles billige Sonderangebote, gar nicht oder kaum getragen.
Tigerratte fiel ein, dass er noch viel später dazu tendierte, günstige Einkäufe zu tätigen, auch wenn er gar nichts benötigte. Verschwendung zweier Nichtverschwendenwollender. Vererbt oder sozialisiert, das war die immer wieder in wechselnden Trends liegende Frage, konjunkturellen Geistesströmen unterworfen. Als Unterrichtsbeamter war er immer wieder diesem ewigen Streit vermeintlicher Experten ausgesetzt: Fördern oder Auslesen war die daraus folgende pädagogische Frage. Er hatte sich schon früh für das Fördern entschieden, wenn auch mit mehr Arbeit und Stress im psychologischen Denken verbunden.
Zurück zum Vater. So richtig hat der das Wirtschaftswunderleben nie begriffen, sonst hätte er sich in späteren Jahren mal was richtig Gutes gegönnt. Er war zu geizig, sich mal ein Taxi zu nehmen, als er nicht mehr gut zu Fuß schreiten konnte. Nein, es musste die kostenlose Busfahrt mit Schwerbeschädigtenausweis sein. Nach einem Herzinfarkt, was typisch erschien bei so einem herzlosen Menschen. Aber dafür hinterließ er Unsummen Geldes. Krass so ´ne Erbschaft in Schuhen angesichts der 1,5 Millionen in Geld und Aktien für die Zweitfrau, rechtzeitig ohne Zugriff für die Kinder auf diese übertragen. Da steckte irgendwie Bitternis oder Hass im Geschehen.
Tigerrattes leibhaftige Mutter, Vaters Erstfrau nahm sich noch mit 70 Jahren verzweifelt mit unrationierten Schlaftabletten das Leben. Wie tragisch! Der Politiker Barschel hatte gerade demonstriert wie man so etwas macht. Die Zweitfrau dämmerte später entmündigt und christlich betreut, obwohl viel jünger, im Altenheim dahin. Trotz oder wegen Alkoholismus. Hat nichts von den Millionen, sie aber einer befreundeten Millionärin in Belgien, die sowieso schon alles im Überfluss hatte, nach Ihrem Tod vermacht.
Na ja, Geld macht nicht glücklich, dachte Tigerratte weiser geworden. Aber wütend war er lange ob so eines unwürdigen Vaters. Auf manches hatte er in dieser Familie allergisch reagiert. Magenprobleme, Hautverunzierungen und Reizhusten zeugten davon. Vater, der große Chirurg, schnitt einfach weg, was er als krank ansah. Manchmal rettete das Leben, manchmal war es schlicht überflüssig oder ging völlig am Kern des Problems vorbei. So musste der Blinddarm wegen häufiger Probleme in Magen- und Darmregionen dran glauben, wurde ratzfatz vom eigenen Vater entfernt. Doch die Darmgeschichten trieben weiter ihr Wesen. Dann waren es eben die Viren laut ärztlicher Bekundung, und gegen die konnte auch Herr Oberarzt nichts machen. Wie schade.
Er hatte zu einer irgendwie verlorenen Generation gehört.
Er ruhe in Frieden.
Friede mit Mutter
Ein Kaiserschnitt unter Lachgas trennte Tigerrattenbaby von den Versuchen des Erdrosselns durch die wilde Reiterin, seine leibhaftige Mutter. Doch er hat sich durchgesetzt, die Nabelschnur dreimal um den Hals gewickelt, blau angelaufen, nach Atem ringend. Er wollte leben, unerwünscht von Mutter, gezeugt mit dem ungeliebten Vater-Soldatenarzt auf Urlaub im vorvorletzten Kriegsjahr.
Später in der Schule, als es dort nicht so gut lief, bekam Tigerratte von seiner Mutter den Spruch “Du schaffst das doch nicht“ mit auf den Weg. Sehr aufbauend das Ganze, mit nachhaltiger Wirkung. Das Scheitern in der Schule ließ nicht lange auf sich warten. Doch der Spruch wurde zum Lebensprogramm für ihn. Erst als er aus der Lethargie in der Lehrzeit erwachte, sammelte er diverse Diplome und war hinfort immer dabei, das Gegenteil zu beweisen. Und dass auch noch, als Muttern schon zwölf Jahre tot war. Aber vielleicht kann sie es aus dem Himmel oder der Hölle betrachten. Tigerratte konnte darüber inzwischen lachen, denn er war trotz häufiger Angst immer wieder gesprungen und hatte nie aufgegeben, sich durchgesetzt wie die Geburt schon zeigte, hatte immer wieder neue Erfahrungen gesammelt und erkannt, was wesentlich und doch so schwer und doch auch leicht ist: Anspannen – entspannen, festhalten – loslassen, tanzen, weinen, lachen, malen, schreiben, machen .... und immer wieder geschehen lassen.
Frieden finden auch mit Mutter, obwohl sie seinen jüngeren Bruder immer vorgezogen hatte. Ihr letzter Satz auf einem kleinen Zettel bei ihrer Selbsttötung geschrieben - sie wollte nie leiden - lautete „Verzeih mir Sohn“. Tigerratte konnte es ab da und genoss sein Leben ohne Mutter mit ihrer Unfähigkeit zu lieben.
Sie hatte zu einer irgendwie verlorenen Generation gehört.
Sie ruhe in Frieden.
Der Bruder
Er war eine arge Konkurrenz, mit Würmern und mickriger Gestalt im letzten Kriegsjahr geboren. Tigerratte seitdem nur Zweiter in der Gunst der Mutter. Später dann Zweiter beim Laufen in Sportverein und Schule, Zweiter in der Liebe seiner Erstfrau nach geborener Tochter, der Zweite in der Gunst der Tochter. Ein ewiger Zweiter. Als Zweiter hat er Schwimmen und Radfahren gelernt, obwohl der Bruder zwei Jahre jünger. Welch eine Schande. Doch es gab Gründe. Nach der Geburt des unseligen Bruders geriet Tigerratte ins Abseits. Der Bruder bekam die ganze Fürsorge der überforderten Mutter. Er wurde bestätigt und bekam es von unten und oben gesteckt, hat sogar das Abitur geschafft.
Tigerratte musste immer aufpassen, dass er genug erhielt von Kuchen, Cornflakes und allem, was er als Kind so brauchte. Selbst später mussten seine Frauen manchmal aufpassen, dass sie nicht zu kurz kamen. Einmal, erinnert er sich, war er König, nämlich Murmelkönig in der kleinen Gasse Pilkentafel mit prall gefülltem Beutel nach getanem Spiel und langen Gesichtern der anderen Spieler. Endlich war er mal Erster, was gut tat.
Tigerratte tat alles, um dem strengen Vater zu gefallen, wenigstens in dessen Gunst der Erste zu sein. Es war ihm gelungen. Er wurde vorgezogen gegenüber dem unordentlichen Bruder, den Vater oft beschimpfte. Noch mit 18 Jahren, wenn der Junge seine Schuhe nicht putzte, bekam er sie an den Kopf geworfen und beschloss sehr früh das Elternhaus zu verlassen. So verlor Tigerratte seinen Bruder. Der betrieb zunächst eine Kneipe mit zwei Freunden und wurde später auch Lehrer. Flüchtete allerdings früh in die Krankheit, als seine eigenen Kinder zur Welt kamen. Das hat ihn wohl stark überfordert und er wurde frühpensioniert. Später war er reichlich kontaktgestört und wohnte auf dem Lande ganz unnahbar fern. Was waren das bloß für Zustände in der Familie.
Wechseljahre
Später staunte Tigerratte manchmal über sich selbst, wie er mit den ständig hin und her schwankenden Veränderungen in seinem Leben fertig wurde. Manchmal kam er sich vor wie eine konstruierte Person in einem Roman. Ganz Spielball des Autors. Hatte die ständige Angst vor fast allem, was von außen oder innen an ihn herankam oder im Untergrund schmorte, ihre Macht verloren? Hatte sein Leben inzwischen eine gewisse Größe und eine Form bekommen? Oder war er nur ein Wesen, das sich gierig seinen Anteil am Sonnenlicht erkämpfte? Durch seine Gedanken fuhren Züge. Er unterrichtete inzwischen junge Menschen der Deutschen Bahn, die im Zugdienst und am Schalter die Kundenkontakte gestalten mussten.
Er hatte früh gelernt, seine Hoffnungen unter Kontrolle zu halten, Entscheidungen mit dem Kopf zu treffen, Gefühle zu vermeiden. Doch es gab auch Augenblicke, die er hütete wie einen Schatz und speicherte wie wertvolle Programme im Laufwerk eines Computers. Er lernte aufzuwachen und nach Möglichkeiten zu suchen, mit dem zu leben, was geschehen war und Neues zu erfahren. Er vergaß den Krieg der Träume, Verfolgungen durch Männer und Angst vor Feuer. Immer auf der Flucht. Er glaubte inzwischen ans Bergeversetzen und schätzte sein Leben.
Oft fehlten seinen Gedanken die Worte, ließen ihn nackt und gestutzt allein. Betäubt wie die Erschütterung seines Kopfes beim Unfall mit seinem Fahrrad. Schon früh als Kind war er heftig aus der Kurve getragen worden und an eine Hauswand geprallt. Gehirnerschütterung war die Folge. Mit dem Kopf durch die Wand geht´s nicht musste er später noch öfters erfahren.
Im Laufe der Jahre hatte er sich die Fähigkeit angeeignet, sich wichtig zu nehmen, wo immer er war, auch wenn eine Schüchternheit ihn manchmal einholte und lähmte. Er hatte gelernt im Vordergrund zu stehen, im Zentrum von Räumen, Häusern, Gärten und bescheidenen Ansammlungen von Menschen. Im Laufe der Jahre versuchte er, lebendig zu sein, manchmal für das ungeübte Auge nicht erkennbar. Fremde brauchten gewöhnlich eine Weile bis sie seine Restangst bemerkten, vor dem Leben in seiner ganzen Fülle, dem Reichtum der Möglichkeiten in den Jahren des Wechsels. Den Wechseljahren auf dem Weg zum Erwachsenwerden, glücklich mit sich und den Kontakten zu anderen Menschen und Freuden am Horizont seiner Gefühle.
Kommentare zu diesem Text
Das Resümee, das Tigerratte am Ende zieht, nimmt die gewonnenen Erkenntnisse und erworbenen Fähigkeiten in den Blick. Dadurch wird der Text rund.
Genauere Erzählungen einzelner Erlebnisse fehlen auch nicht, da sich aus dem Geschilderten ein Bild ergibt, dessen Wirkung für das Einfühlen in den Protagonisten ausreicht für mich.
Ich habe den Text mit Interesse gelesen.
Liebe Grüße
Solvy
LG Uwe