Schon als Kind wollte er Schrankenwärter werden. Nicht wie sein Bruder Lokomotivführer, sondern Schrankenwärter. Indem er Barrieren herunterließ, trennte er gleichzeitig diejenigen, die einer anderen Welt entgegenfuhren, von denen, die zu Hause blieben. So brachte er für Momente Ferne und Fremdheit ins Bewusstsein. Doch er hatte Angst davor, mit seinen Gedanken in die Ferne zu schweifen, geschweige denn dahin zu fahren.
Wenn er in seinem Schrankenwärterhäuschen saß und die Züge vorbeirauschen sah, träumte er in regelmäßigen Abständen von dieser Welt. In den Zwischenräumen, in denen keine Züge fuhren, zeichnete er diese Träume. Jeder konnte jetzt sehen, dass er offensichtlich beeindruckt war von dem Fernweh, das durch die unendlich vielen vorbeirollenden Züge hervorgerufen wurde.
Er lebte immer sehr bescheiden. Als eines Tages sein Job als Schrankenwärter in ein modernes Stellwerk verlegt wurde, war er überflüssig geworden, bekam eine großzügige Abfindung und richtete sich damit und seinen beachtlichen Ersparnissen ein Atelier ein. Er vertiefte sich immer mehr in seine Bilderwelt, die gut beim Publikum ankam. So wurde er ein richtiger Künstler. In den Werken der weiteren Jahre provozierte er mit Zusammenstößen verschiedener Welten das Kunstpublikum, stellte fesselnde Grenzerfahrungen dar, die dazu führten, dass sich auch in seinem realen Leben Grenzen aufhoben, denn die Werke erfuhren hohe Wertschätzung und wurden entsprechend bezahlt, so dass er sich keine Sorgen um seine materielle Existenz mehr machen musste.
Inzwischen zweiundfünfzig Jahre alt zog er nach New York, wo sich eine etwa gleich alte Kunstmäzenin zuerst in seine Bilder und dann in ihn verliebte. Ihren aktuellen russischen, sehr scheuen Künstlerfreund empfand sie nicht wie einen Mann, denn er benahm sich sehr unerfahren dem Weiblichen gegenüber, wie ein Schuljunge im Frühling. Da gefiel ihr der schöne, trotz seines Alters noch sehr attraktive und gut gebaute Ex-Schrankenwärter sehr viel mehr. Er war inzwischen für seine Collagen berühmt geworden, hatte Charme und Erfolg bei vor allem jüngeren Frauen. Deshalb erwiderte er die Liebe zu seiner Mäzenin nicht.
Nach mehreren Liebschaften schlug er zwei Jahre später sein Atelier in Marseille auf. Dort traf er seine Mäzenin wieder und er fragte spontan:
„Wann und wo und warum sehe ich Sie wieder?“
Sie antwortete ebenso filmreif:
„Morgen um vier Uhr im Café de la Paix. Warum, das wissen Sie“, und steckte ihm den Zimmerschlüssel zu.
Sie konnte die Beziehung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie wusste, dass er noch andere Geliebte haben würde, denn er war jedes Mal hingerissen von jungen Frauen, die ihn bewunderten, auch wenn sie in ihren Augen langweilig, dumm, arrogant, vulgär und schrecklich geschmacklos gekleidet waren. Aber sie wollte ihn trotzdem, hier und jetzt in Marseille.
Sie konnte ihn dazu bringen mit ihr nach New York überzusiedeln. Doch sie spürte den Schmerz in dem Wissen, dass er sie nicht wirklich liebte. Er liebte eigentlich nur sich selber, war wie ein Kind gewesen, das stets im Mittelpunkt stehen und bewundert werden wollte. So hatte sie in der Beziehung zu ihm immer mehr mütterliche Gefühle entwickelt, ein Kind, das umsorgt werden musste. Sie drängte ihn förmlich zur Heirat. Die Ehe wurde gnadenlos vollstreckt und verlief selbstverständlich unglücklich.
Als Maler wurde er sehr berühmt, doch auf seinen Bildern erkannte sie stets nur fremde Frauen, mit einer Ausnahme, sie als kleines Mädchen inmitten von Tierköpfen. Im Verlauf der Ehe wollte er ein Haus kaufen, in dem elf Menschen umgebracht worden waren. Sie lehnte das vehement ab.
„Was fällt dir denn ein? Bist du denn völlig übergeschnappt? Es reicht mir, dass du in deiner Malerei das Abgründige deiner Seele zeigst, die Realität zerschneidest, eine ästhetische Distanz schaffst. Aber in einer Mordvilla leben? Da mache ich nicht mit.“
Er antwortete:
„Ich als Maler weiß, was ich nicht will, wie du in diesem Fall auch. Doch wehe wenn ich wissen will, was ich will. Ich bin als Maler verloren, wenn ich mich finde.“
Seine Ehe ging in die Brüche, doch dass es ihm geglückt war, sich nicht zu finden, betrachtete er als sein einziges Verdienst. Schrankenwärter wollte er nie wieder werden.