Strafgefangene des Sports

Kommentar zum Thema Erschöpfung/ Müdigkeit

von  eiskimo

Welch ein Datum! Vor 100 Jahren feierte Frankreich schon einmal an den Ufern der Seine zwei Mega-Sportereignisse nahezu zeitgleich: Die Olympischen Spiele 1924 mit 3092 Teilnehmer, darunter 136 Frauen und – viel wichtiger! - die Tour de France (157 Starter), die damals zum 18. Male stattfand. Und jede Menge Menschen, die sich dafür begeisterten. Und jede Menge Schweiß derer, die sich vor ihren Augen quälten.

Herr der großen Frankreich- Rundfahrt war ein gewisser Henri Desgranges, der sinnigerweise eine Zeitschrift namens „L´Auto“ herausgab und mit dem Radrennen seine Verkaufszahlen hochtreiben wollte - was er mit immer spektakuläreren Anforderungen tatsächlich auch schaffte.

Bei der Tour 1924 waren dann sage und schreibe 5450 Kilometer zu absolvieren, und das verteilt auf 15 (!) Etappen, was den Teilnehmern zwischen 350 und 530 Tages-Kilometer abverlangte. Einen Ruhetag gab es jeweils, dann der nächste Nacht-Start.

Keine medizinische oder technische Betreuung unterwegs, keine Gangschaltung (die wurde erst 1936 zugelassen!), mickrige Rücktrittbremsen an 18 Kilo schweren Vélos, die von Start bis Ziel nicht ausgetauscht werden durften. Nicht mal das Trikot durfte gewechselt oder durch einen Regenschutz verändert werden. So rigide war das Regelwerk des Henri Desgranges.

Start der Etappen war jeweils nachts, damit man nach 15 oder mehr Stunden ( also einem Stundenmittel von ca. 25km) zur besten Frühabend-Zeit am Etappenziel eintreffen konnte – bestaunt von den Neugierigen, die so ein Spektakel ja nicht alle Tage hatten. Völlig zerschundene, verdreckte, ausgepowerte Radrennfahrer.

Desgranges führte seine Tour ziemlich dicht an den Außengrenzen Frankreichs entlang – eine Art Ehrerbietung an die Grande Nation. Für die Fahrer aber hieß es, dass sie fast nur auf Provinzstraßen übelster Beschaffenheit unterwegs waren, gepeinigt vor allem durch den sommerlichen Staub. Fünf oder sechs Reifendefekte pro Tag waren keine Ausnahme, wobei die Fahrer die Pannen selber zu beheben hatten. Selber verantwortlich waren sie auch für ihr „Dynamit“. So nannten sie die unterschiedlichen Pillen, Pulver und Mixturen, mit denen sie sich dopten. In aller Offenheit. Hauptsache, sie kamen irgendwie durch.

Start und Ziel ist 1924 Paris, und die 157 Starter sollen, so der autokratische Tourleiter, leiden, extrem leiden... weil das sein sportliches und geschäftliches Credo ist.

Die Franzosen folgen diesem Credo. Die Tour ist DAS Ereignis, vor allem, weil im Vorjahr nach 12 Jahren der belgischen Dominanz mit Henri Pelissier endlich wieder einmal ein Franzose gewonnen hatte.

Olympische Spiele? Eine Randerscheinung. Frankreich ist längst ein Radsportland geworden. Desgranges baut in Paris das Prinzenpark-Stadion …. mit einem Rennradkurs. Er baut auch den Vélodrome d´Hiver, unter der Occupation der Nazis als Sammelstelle der verhafteten Juden bis heute von makabrem Ruhm.  Die „Tour der Leiden“ aber ist Desgranges´ unbestrittenes Markenzeichen. Schon hat er den besonderen Zermürbungswert der Berge erkannt. Die Überquerung der Pyrenäen, der Tourmalet, wahnwitzige Abfahrten -  es wird immer extremer.

Ausgerechnet der Journalist Albert Londres, der sich mit Reportagen über die Grauen des Ersten Weltkriegs und die unmenschlichen Haftbedingungen in den französischen Übersee-Bagnos einen Namen gemacht hatte, wird nun von der Zeitung „Petit Parisien“ berufen, die Tour 1924 zu begleiten – natürlich nicht als Sportkommentator, sondern als der kritische Zeitzeuge, der das Zwanghafte und Fragwürdige dieser Veranstaltung in Worte fassen sollte.

Und das tut Albert Londres.

Erstmals wird von „Strafgefangenen der Straße“ gesprochen, von Sportlern, die unter Qualen systematisch ans Limit gebracht werden. Klar, sie haben sich freiwillig gemeldet. Junge Männer, die sich beweisen wollen, die man ermutigt hat, hochgelobt, angelockt mit Preisgeldern...

Sieger der Tour 1924 wird der Italiener Bottechia. Albert Londres indes berichtet von ihm nur am Rande. Sein Thema sind die „kleinen“ Teilnehmer, namenlose Fahrer, die ihm erzählen, was das Doping mit ihnen macht, wie sie die Folgen böser Stürze verdrängen, die Koliken unterwegs, die Krämpfe - weil ja jede Etappe ein Zeitlimit hat. Wer das nicht einhält, ist draußen.

Am Ende hinterfragt Albert Londres die Interessen des Veranstalters. Seinen Geschäftssinn. Und:  Wem nützt eigentlich dieses immense kollektive Leiden? „Une grandeur pathétique,“ antwortet er, aber „in fine inutile".

Nach wie vor ist Londres Frage aktuell. Auch 100 Jahre später. Denn wir erleben gerade erneut Sportler, die ans Limit gehen. Möglicherweise gedopt Es findet statt wieder Frankreich. Der Ort heißt wieder Paris.

Quelle: Antoine de Baecque „Condamnés au Tour“, Payot Classiques 1223, Paris 1923




Anmerkung von eiskimo:

Strafgefangene in heutigen JVAs haben ein entspanntes Dasein, verglichen mit der Marter, der sich viele Sportler (vor allem in Ausdauersportarten) täglich aussetzen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Redux (30.07.24, 08:42)
Ein höchst interessanter und gleichzeitig brandaktueller Bericht.

 Graeculus (30.07.24, 10:17)
Das waren ja unglaubliche Bedingungen 1923! Bis zu 530 km am Tag ohne Gangschaltung!

 Regina (30.07.24, 12:34)
Von Strafgefangenen kann man doch nicht sprechen, wenn sich Leute den Strapazen freiwillig unterziehen und jederzeit aussteigen können.

Hochleistungssport und dessen finanzielle Seite allgemein finde ich eine sehr fragwürdige Angelegenheit. Jugend-, Breiten- und Gesundheitssport fände ich wichtiger.

 eiskimo meinte dazu am 30.07.24 um 20:59:
Londres schreibt von jungen Männern, die auch für ihre Stadt oder das Département fuhren - Hauptsache bis zur  Etappe durchhalten, bei der sie vor der heimatlichen Kulisse glänzen könnten.  Lokalpatriotismus, Heimatstolz, fehlgeleiteter Ehrgeiz - wenn sie einmal dicht dran waren an der Spitze, dann stiegen sie nicht aus. Die Chance, sich sozusagen unsterblich zu machen, trieb sie bis zum letzten.
Klar ist das fragwürdig.Vor allem, wenn clevere Organisatoren mit der Leidenschaft/Leidensbereitschaft dieser Menschen ihren Profit machen.

 AZU20 (30.07.24, 13:00)
Sehr aktuell. LG
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram