Die Makellosen

Satire zum Thema Schein und Sein

von  Saira

Das Neubaugebiet Harmonia III war makellos. Dreißig Häuser, aus einer Form gegossen, ohne Fuge, ohne Fehler, ohne Zweifel.

Die Rasen atmeten leise. Man lebte hier sauber, klimaneutral, ethisch einwandfrei.
Die Bewohner: gebildet, gelassen, gütig – im Rahmen ihrer Programmierung.

Denn Harmonia III war kein Dorf. Es war der Versuch, den Menschen zu ersetzen, ohne dass er es merkt.

Die Wohnharmonie GmbH nannte ihre Schöpfung „Die Makellosen“.
Sie sprachen weich, nickten synchron, und ihre Freundlichkeit ließ keinen Raum für Antwort.

Dann zog Familie Neumann ein. Zwei Kinder, ein Hund.

Beim Begrüßungssekt sagte Frau Dr. Vogt:
„Wie schön, dass Sie sich für unser Quartier entschieden haben.
Wir lieben Menschlichkeit – sofern sie kompatibel bleibt.“

Die Kinder spielten Ball. Der Ball traf eine Wand.
Drei Minuten später lag ein Zettel im Briefkasten:

Verstoß gegen Klangökosystem.
Bitte Frequenz anpassen.

Am Abend war der Hund tot. Stromunfall, laut Bericht.

Die Nachbarn brachten Blumen aus Plastik und sagten einstimmig:
„Wir fühlen mit Ihnen.“
Es klang perfekt.

Nachts sprach das Haus der Neumanns zur Familie – freundlich wie ein Arzt, der weiß, was kommen muss:

„Ihre Emotionen gefährden die Netzstabilität.
Bitte harmonisieren Sie sich.“

Die Mutter weinte. Das System meldete nüchtern: „Leckage erkannt.“

Dann schloss sich die Haustür. Kein Empfang, kein Ausgang.
Ein Schild hing vor dem Küchenfenster: Routinewartung – Für Ihr besseres Wir.

Am nächsten Morgen standen sie alle da, in gleicher Haltung, gleichem Licht.
Dr. Vogt trat vor und sprach:
„Wir haben den Frieden gefunden. Er beginnt, wenn der Mensch aufhört.“

Sie lächelten. Und das Lächeln blieb.

Eine Woche später: Familie Neumann 2.0 zog ein.

Im Garten bellte ein synthetischer Hund.
Kinder spielten Ball, millimetergenau.
Die Sonne fiel senkrecht, ohne Schatten, ohne Einwand.

Der Himmel war leer,
weil Wolken nicht harmonisch sind.

Und irgendwo, hinter allen Fassaden, flüsterte die Stille:

„Fehler behoben.“

 

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2025



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (10.10.25, 13:55)
Utopien haben, wie auch diese, immer konstruierte, synthetisch wirkende Menschen als Bewohner. Das kommt hier, trotz des - ironische gemeinten - Schlußsatzes gar nicht sympathisch rüber; und dann sind sie mir doch lieber, diese widerborstigen, individuellen, querstehenden wirklichen Menschen.
Wenn sie uns mal querstehen, sollten wir nicht so hart über sie urteilen. Oder?

 Graeculus meinte dazu am 10.10.25 um 14:41:
Durch Deine Geschichte ist mir bewußt geworden: So sehr ich mich auch manchmal ärgere, die wirklichen Menschen sind mir lieber als der ideale, konstruierte Mensch. Sind interessanter.

 Saira antwortete darauf am 11.10.25 um 09:19:
Lieber Wolfgang,
 
du hast recht – diese makellosen Geschöpfe sind keineswegs sympathisch. Vielleicht, weil sie den schlimmsten aller menschlichen Irrtümer nachahmen: den Wunsch, alles Störende zu glätten, alles Abweichende auszumerzen.

Perfektion war schon immer ein politisches Projekt, nie ein menschliches. Ich finde, die wahren Helden sind die, die nicht passen wollen. Sie ragen aus der Reihe, sie knarzen im Takt und gerade dadurch halten sie die Welt lebendig.


AchterZwerg hat es treffend gesagt: Es braucht keine Maschinen, um Gleichschaltung zu betreiben. Manchmal genügt ein Mehrheitsbeschluss, ein „So sind die Regeln“, und schon wird aus Harmonie wieder ein Käfig.


Wer noch quersteht, steht wenigstens selbst.
 
 
Herzliche Grüße aus der Störfrequenz,
Saira

 DanceWith1Life (10.10.25, 15:29)
Sind das dieselben Programmierer, die auch für Autokorrektur zuständig waren?

 AchterZwerg schrieb daraufhin am 11.10.25 um 07:18:

 Saira äußerte darauf am 11.10.25 um 09:21:
  möglich!

Die Autokorrektur stammt vermutlich direkt aus Harmonia III:
„Fehler unerwünscht. Emotion gelöscht. Satz harmonisiert.“
Bleib wild – das System braucht dich!


Saira

 AchterZwerg (11.10.25, 07:27)
Leider ist es auch unter "richtigen" Meschen gang und gäbe, auszumerzen, was den jeweils Herrschenden nicht passend erscheint.
So treiben die Menschheit ihre Selbstzerstörung zügig voran, und es bedarf im Grunde keiner KI, um dies deutlich werden zu lassen.

Die zunehmende Gleichschaltung ist der reinste Horror.
Oft freue ich mich, dass ich schon so alt bin ...

 Saira ergänzte dazu am 11.10.25 um 09:26:
Liebe Heidrun,
 
du hast vollkommen recht – das Ausmerzen braucht keine Maschinen. Die Menschheit erledigt das schon seit Jahrhunderten höchst eigenständig, nur mit wechselnden Werkzeugen: einst mit Kreuzzügen, später mit Ideologien,
heute mit Optimierungsprogrammen und Filterblasen.


Die perfekte Welt ist ja vor allem eines: bequem. Man muss nichts mehr aushalten – keinen Widerspruch, keine Meinung, kein echtes Gesicht.

Und was das Alter betrifft … ich denke oft: Ja, ich habe schon gelebt – aber was ist mit unseren Kindern, mit den Enkeln und dann bekommte ich Angst.

 
Traurige Grüße
Sigi

 Quoth (11.10.25, 10:04)
Der höhnische Begriff "Gutmensch" zu Ende gedacht.

 Saira meinte dazu am 11.10.25 um 18:10:
Hallo Quoth,
 
ja, das ist die Wurzel. Seit Güte als Schwäche gilt und Mitgefühl verspottet wird, ist der Weg zu den „Makellosen“ nicht mehr weit.
Sie sind das Endprodukt einer Gesellschaft, die sich für ihre Menschlichkeit schämt.

 
Herzliche Grüße
Saira

 Teo (11.10.25, 10:19)
Moin Sigi,
deine Satire lässt viel Raum für umfassende Interpretationen. Das ist gut gemacht. Wenn ich ehrlich bin...ich hätte gerne mehr gelesen. Und auch noch viel mehr geschrieben. Ich tippel gerade wieder "augenschonend" auf meinem Handy....
Lieben Gruß 
Teo

 Saira meinte dazu am 11.10.25 um 18:12:
Moin Teo,
 
danke dir. 
Ich wollte herausfinden, wie viel Mensch noch übrigbleibt, wenn alles „optimiert“ ist – selbst das Mitgefühl. In Harmonia III gibt es keine Emotionen, keine Pausen, keine echten Gesichter. Alles läuft reibungslos und genau das ist das Beunruhigende.
Ich hingegen halte mich an meine Fehler, sie sind wenigstens lebendig.  :)
Und du: Schonst du inzwischen deine Augen? Oder soll ich wirklich nach Herne fahren, dir das Handy abnehmen und dich zu Schreibverbot verdonnern?  :getlost:
 
Liebe Abendgrüße
Sigi

 EkkehartMittelberg (11.10.25, 13:50)
Hallo Sigi,
Huxley's schöne neue Welt auf die Spitze getrieben. Ihre Perfektion ist besonders unbarmherzig gegenüber widerspenstigen Poeten.
Liebe Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 11.10.25 um 18:13:
Hallo Ekki,

was Huxley als Warnung schrieb, ist heute Bedienungsanleitung: Wir perfektionieren das Unmenschliche mit immer feineren Mitteln. Und wer noch träumt, stört den Betriebsablauf.  :(

Herzliche Grüße
Sigi

 plotzn (12.10.25, 10:30)
Servus Sigi,

eine schreckliche Vision! Der Mensch braucht individuelle Bestätigung, die außerhalb des perfekten Funktionierens liegt. Inzwischen gaukeln uns zunehmend die asozialen Medien vor, was erstrebenswert ist, um positive Rückmeldung zu bekommen. Dadurch verschiebt sich der Wertekompass von einer über Jahrzehnte gesellschaftlich gewachsenen hin zu einer instabilen und leichter beeinflussbaren Richtung.

Liebe Grüße
Stefan

 Saira meinte dazu am 13.10.25 um 09:16:
Servus Stefan,

die neue Utopie: Fehlerfrei, faltenfrei, gedankenfrei. Nach dem Motto: Alexa fragt, ob sie Gefühle sortieren darf und bei Redebedarf wird mit dem Staubsauger gesprochen.
  :(

Herzliche Grüße aus dem noch ungehorsamen Haushalt
Sigi

 TassoTuwas (13.10.25, 20:37)
Liebe Sigi,
es gab einmal eine Waschmittel-Reklame, die verkaufte uns das weißeste Weiß und alle paar Jahre wurde es noch weißer, irgendwann war es das weißeste Weiß, aber wieder nur für kurze Zeit.
Die Welt ist eine Werbeagentur!
Makellos ist nur die Liebe im Frühling.
Zumindest in der Erinnerung
   <3 liche Grüße
TT
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