Schweigen der besonderen Art

Erörterung zum Thema Urteilsvermögen

von  loslosch

Rumores fuge, ne incipias novus auctor haberi; nam nulli tacuisse nocet, nocet esse locutum (nach Cato dem Älteren, 234, v. Chr. bis 149 v. Chr.; Disticha Catonis - Sammlung von Sentenzen aus der Spätantike; Verfasser unbekannt). Meide Gerüchte, damit man dich nicht für ihren Erfinder hält; denn es schadet keinem, geschwiegen zu haben; es schadet, gesprochen zu haben.

So lautet die ohnehin zweifelhafte Sentenz; denn Gerüchte entwickeln bald ihr Eigenleben und die Verbreiter von Gerüchten werden selten dingfest gemacht, ihre Opfer aber so gut wie nie rehabilitiert.

Und was macht eine Art von Bestseller (Hubertus Kudla, Lexikon der lateinischen Zitate, Verlag C. H. Beck, 3. Aufl., München 2007) daraus? "Nam nulli tacuisse nocet, nocet esse locutum. Catonis Disticha 1,12,2 Niemand schadet es, wenn er den Mund hält, doch reden kann schaden."(A. a. O., S. 385.) Der erste Gedanke: Hier irrt doch Cato, oder seine Nachfahren, die im 3./4. nachchristlichen Jahrhundert diesem großen Römer allerlei Gedanken und Sentenzen zugeordnet haben. Durch falsche Worte (gar zur falschen Zeit gesprochen) kann größter Schaden zugefügt werden - aber auch durch (falsches) Schweigen. Wenn z. B. ein Tatzeuge den wahren Täter kennt und durch beharrliches Schweigen den Verdacht vom zu Unrecht Verdächtigten nicht wegnimmt. Sicherlich dürften die Fälle falschen Redens häufiger auftreten als die falschen Schweigens. Das ändert aber nichts an der Unhaltbarkeit der von Kudla präsentierten verstümmelten Sentenz.

Lieber keine lateinischen Sentenzen als sinnwidrig verstümmelte.

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Kommentare zu diesem Text


 poena (18.12.11)
steht da tatsächlich "niemand schadet es"? dann fehlt da auch noch die endung bei "niemand-em"!!
grammatikwissen ist nicht nur des lateiners freude. :o) lg, s

 loslosch meinte dazu am 18.12.11:
beides ist erlaubt, niemand wie niemandem. vor einigen wenigen jahren wusste ich das auch noch nicht. aber die übersetzung ist scheißig. vergleiche meine, die ich - was selten passiert - von wiki exakt übernommen habe. das war halt schon perfekt. der eigentliche skandal: das buch ist ein markterfolg geworden. auch ein fall von copy&paste. lothar

 poena antwortete darauf am 18.12.11:
http://www.sprache-werner.info/Wer-hat-die-Endung.3443.html

soweit bastian sick.

und irgendwie sehe ich eine parallele zu deinem beispiel. zuerst lässt man etwas weg, dann verändert sich der sinn und kaum einer merkt, wie dumm beides ist.

edit: niemand schlägt jemand. wer jetzt?
(Antwort korrigiert am 18.12.2011)

 loslosch schrieb daraufhin am 18.12.11:
ja, bastian sick hat das talent, detailgenau zu formulieren und den oberlehrerhaften ton zu vermeiden. die im link genannten beispiele werden überragt von einem invers gelagterten fall, dem nomen autor:

der autor, des autors, dem autor, den autor.

viele hier bei kv (nicht ohne schuld von kv selbst: "... wurde zum Jungautoren des Monats ... gewählt") erklären sich öffentlich zum toren. [hier ist toren mal richtig.]

"dem autoren einen bär aufbinden" stammt von wolf schneider.

für mich wars keine strafe, sondern eine freunde, dir zu antworten. lo

 Kontrastspiegelung (18.12.11)
Lothar, du bekommst meine Zustimmung zu deinem letzten Satz. :.)

Wobei, es gibt doch tatsächlich Erdlinge die Gerüchte verbreiten, damit man Sie auch noch anspricht. Sie nutzen das sogesagt aus um Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Lg, Kathi

 loslosch äußerte darauf am 18.12.11:
so ist das mit der gerüchteküchte, kathi. offenbar schon vor 2.200 jahren. die menschen sind technisch besser geworden. aber sonst ...? danke lothar

 Bergmann (18.12.11)
Sollte hier nicht auch das berühmte "Si tacuisses, philosophus mansisses" wenigstens erwähnt werden - ?
Und ein aktuelles Beispiel - ?
s. t. Ulius

 loslosch ergänzte dazu am 18.12.11:
uli, du hast ja recht mit der suche nach dem aktuellen beispiel. wer hilft mir weiter? auf die schnelle finde ich nichts. sine tempore: lothar

 Bergmann meinte dazu am 18.12.11:
Kauder: In Europa spricht man deutsch... oder Köhlers Rücktritts-Gefasel...
Oder Schröder am Wahlabend 2005...

 loslosch meinte dazu am 18.12.11:
das alles rangiert für meinen geschmack unter patzer/freudige fehlleistung (kauder), verschweigen der wahren gründe (merkelchen hatte den horst unter 4 augen niedergemacht - meine vermutung) und peinlicher bluff (schröder).

philipp jenninger mit seiner unseligen holocaust-rede, als er den redetext herunterleierte, zitate wie eigene worte lallte. der dumme philipp hatte den richtigen inhalt "nur" falsch vorgetragen. das würde passen, uli.

bei lübke würde man leicht fündig. doch der hatte ja schon alzheimer.

 Bergmann meinte dazu am 18.12.11:
Ja, Jenninger ist ein sehr gutes Beispiel. D'accord.
t. t.

 EkkehartMittelberg (18.12.11)
Typisch für Cato, dass er moralisierend argumentiert. Seine Empfehlung ist sympathisch, aber er irrt sich. Man muss schon dumm sein, wenn man ein Gerücht so plump verbreitet, dass man für dessen Erfinder gehalten wird. Gerüchte schaden in der Regel nicht deren Erzählern, sondern jenen, auf die sie gemünzt sind: "aliquid semper haeret": Es bleibt immer etwas hängen. Wenn Gerüchte nur oft genug wiederholt werden, erscheinen sie unkritischen Menschen als Wahrheit. Der Geschädigte ist in der Regel der, der mit Gerüchten überzogen wird.
Ekki

 loslosch meinte dazu am 18.12.11:
wie recht zu hast, ekki. ich werde also abändern müssen und auf catos zweifelhafte folgerung hinweisen. dein lob kann nur der tatsache gelten, dass ich das verstümmelte zitat vervollständigt und den stuss eines torso-zitats offengelegt habe.

danke fürs genaue hinsehen. ein sonderlob für deine sachliche analyse der kompletten sentenz. - das verleiht jetzt der überschrift besondere würze. lothar

ps: zu deinem zitat (" ... semper aliquid haeret" ein link:  Etwas bleibt schon hängen mit der nachgereichten glosse.
(Antwort korrigiert am 18.12.2011)
(Antwort korrigiert am 18.12.2011)
baerin (53)
(18.12.11)
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 loslosch meinte dazu am 18.12.11:
klar! ich wollte den text nicht vollpacken, nannte nur einen der übelsten fälle, einen unter schwerem verdacht stehenden arglistig nicht zu entlasten.

es gibt - aus dem leben - geniale konstellationen: die tochter aus erster ehe zieht am telefon über ihren vater her. weils der neuen ehefrau gerade recht ist, haucht sie ins telefon: da sagen Sie was. bitte haben Sie verständnis, wenn ich dazu nichts sage ...

sie hat nichts gesagt, aber eigentlich doch! c´est la vie ... lothar
baerin (53) meinte dazu am 18.12.11:
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