Erwachsen werden

Erzählung zum Thema Erwachsen werden

von  EkkehartMittelberg

Mit dem Erwachsenwerden tun sich junge Menschen immer schwer. Aber es gibt Zeiten, die den Umgang mit gesellschaftlichen Normen leichter machen und solche, die wenig Hilfe bieten.
Man muss in unserer Kultur vor allem zwei Hürden überwinden, wenn man sich ohne größere Probleme in die Gesellschaft eingliedern will. Man muss lernen, mit Alkohol so umzugehen, dass man nicht auffällig wird, und sich sexuell so zu verhalten, dass man nicht einsam bleibt.
Es war schwierig, in den Nachkriegsjahren diese Probleme zu meistern, weil die Gesellschaft außer durch die Kirchen keine Unterstützung bot.
Damals war die Verführung des Alkohols für junge Menschen besonders groß, weil es nur wenige Vorbilder für sie gab. Aus dem Gefühl heraus, noch einmal davon gekommen zu sein, tranken viele Erwachsene unkontrolliert, und in zahlreichen Privathaushalten brannte man aus Kostengründen den Schnaps sogar selbst. Es wurde viel mehr Branntwein getrunken als heute, und die Kontrollen waren lasch, denn es gab viel weniger motorisierte Kneipenbesucher oder motorisierte Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen mit Ausschank von Alkohol, und nur wenige Besitzer von Autos fürchteten Verkehrskontrollen durch die Polizei. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass mir und meinen ebenfalls minderjährigen Klassenkameraden jemals ein Wirt Alkohol mit dem Hinweis auf unser Alter verweigert hätte.
                                                                                      Ich hatte mich 1954 zu meinem 16ten Geburtstag mit zwei Freunden für eine Radtour zu einem Ausflugslokal auf dem Lande verabredet. Wir erhielten in der Kneipe umstandslos eine Flasche süßen Weins (damals unterschieden die Meisten nur süßen und herben Wein), der uns so gut mundete, dass wir noch eine zweite Flasche bestellten. Die Rückfahrt mit unseren Fahrrädern verlief problemlos, schon deshalb, weil wir über jede anspruchslose Bemerkung lachen mussten.
Danach legte ich mich heiter und zufrieden ins Bett. Vorher hängte ich aber noch sorgfältig meinen teuren Konfirmationsanzug auf einen Kleiderständer meinem Bett gegenüber. Dann kam, was kommen musste, ich erlebte zum ersten Mal, dass mein Bett schwankte, und als es mir plötzlich speiübel wurde, zielte ich geradewegs auf meinen noblen Konfirmationsanzug. Als ich mich wieder erholt hatte, versuchte ich das teure Gewand, so gut es ging, zu reinigen. Aber als mich meine Mutter am Morgen weckte, wusste sie ob des Odeurs sofort, was geschehen war. Ich rechnete nun mit heftigen Vorwürfen, aber sie wollte nur wissen, wo wir waren und was wir getrunken hatten und stellte sachlich fest, dass das für drei 16jährige Jungen zu viel gewesen sei. Sie erwartete von mir, dass sich so etwas nicht wiederholen würde. Weil sie so ruhig blieb, schämte ich mich besonders, und seit diesem Vorfall hatte ich meinen Alkoholkonsum bis heute immer im Griff.
Ein Jahr später besuchte ich einen Tanzkurs. Dessen Teilnehmer trafen sich sonntags am Nachmittag zum Tanztee. Dort forderte mich eine besonders attraktive Tänzerin zur Damenwahl auf. Es blieb bei dieser Aufforderung, weil ich den Bus, der mich zu unserem Hause in einen Vorort brachte, nicht verpassen durfte. Ein paar Tage später erschien meine Tänzerin an der Bushaltestelle und entschuldigte sich für eine Äußerung, deren angebliche Peinlichkeit mir gar nicht bewusst gewesen war. Doch bevor wir uns darüber austauschen konnten, kam mein Bus.
Ein paar Tage vergingen. Es waren Sommerferien und ich saß lesend in unserem Garten. Ich traute meinen Augen nicht, als die Schöne mich dort mit ihrem Fahrrad aufsuchte. Ich weiß nicht, wie sie meine Adresse herausgefunden hatte. Jedenfalls war solch ein unangemeldeter Damenbesuch für die Fünfziger Jahre ein emanzipativer Akt. Meine Mutter empfing die junge Dame und ich merkte gleich, dasss sie die Besucherin sympathisch fand. Kurz danach verließ meine Mutter, die eine Ferieneinladung hatte, unser Haus und Silke und ich hatten „sturmfreie Bude“, wie man das damals im Studentenjargon ausdrückte.
Wir tauschten Zärtlichkeiten aus, aber mehr war nicht, obwohl ich spürte, dass sie es erwartete. Ich kam mir mit meiner Zurückhaltung großartig vor und habe in diesem Sinne auch moralisierend geschwurbelt.
Silke ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, und ich traf sie einige Tage später auf einem sog. Hausball wieder. Unter den Tänzern befand sich ein gut aussehender junger Mann, der ein paar Jahre älter war als wir 17jährigen Schüler. Er brachte Silke nach Hause und die beiden wurden ein Paar.  Ich habe sie noch einige Male auf Tanzveranstaltungen getroffen, wo Silke ein paar belanglose höfliche Worte mit mir wechselte. Ich unterdrückte meine Eifersucht und redete mir ein, dass Silke ein Flittchen sei. Es dauerte lange, bis ich mir eingestand, dass ich als grüner Junge ein Mädchen kennengelernt hatte, die eine Frau war und den Mut hatte, es zu zeigen.
© EkkehartMittelberg, Dezember 2017

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Kommentare zu diesem Text


 jennyfalk78 (02.12.17)
Habe echt minutenlang überlegt, was ich dazu schreiben soll. Außer "seufzt" ist mir nichts eingefallen.
Habe den Klops im Herzen, und den Kloß im Hals.
Herzlichst die Jenny

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Merci, Jenny. Die Geschichte mit Silke hat lange nachgewirkt.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (02.12.17)
Ich weiß nicht, was einen erwachsen sein lässt. Aber ganz gleich was es ist, wenn ich so um mich schaue, bin ich mir sicher, dass es die meisten nicht haben, was nicht schlimm wäre, wenn sie das nicht von sich denken würden. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste, was diese "Erwachsenen" von sich halten...

Das ändert aber nichts daran, dass ich diese Erzählungen von dir mag.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 02.12.17:
Danke,lieber Trekan, ich weiß, was du meinst. Ich gestehe auch, dass ich mich mit soziologischen Definitionen des Erwachsenseins schwer tue.
Ich freue mich, dass du meine Erzählungen magst.

Antwort geändert am 02.12.2017 um 11:04 Uhr
ZUCKERBROToderPEITSCHE (60)
(02.12.17)
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Sätzer (77) schrieb daraufhin am 02.12.17:
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 02.12.17:
@ZoP: Liebe Zopi, bei meiner Bestimmung der Hürden schwingt schon Selbstironie mit. Aber man könnte triefend ironisch werden, wenn man nach Alternativen sucht. Das Zeugnis der Reife (Abitur) oder der Mittleren Reife (welche Komik) zum Beispiel sagen über die Gesellschaftsfähigkeit eines Menschen gar nichts aus.
Ich freue mich,dass du dich nicht gelangweilt hast.
LG
Ekki

@Sätzer: Merci, lieber Uwe, man kann darüber streiten, wann der Umgang mit Alkohol eszessiver war. Ich erlebe heute bei Gesellschaften, dass viele Menschn nur noch Wasser trinken.
Das war in den Fünfziger Jahren nach meiner Beobachtung selten.
Wir sind uns aber einig über die verklemmte Sexualität in den 50er Jahren.
LG
Ekki
ZUCKERBROToderPEITSCHE (60) ergänzte dazu am 02.12.17:
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 Sylvia (02.12.17)
Hallo Ekki,
deine Erlebnisse finde ich sehr spannend, vor allem das Reflektieren eigene Jahre später. Sehr gerne daran teilgenommen :)
LG Sylvia

PS:
Zu dem Alkohol fällt mir noch ein, dass viele, nicht alle, ihre Erlebnisse förmlich ertränkten. In den Zeiten der Wirtschaftskrisen stiegen z. B. auch die Selbstmordraten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Grazie, liebe Sylvia, mit ist wichtig, dass du meine Erlebnisse nicht als banal abtust, sondern sie sogar als spannend empfindest.. Sicher haben sehr viele Ähnliches erlebt. Wenngleich diese Erlebnisse nicht sehr originell sind, sind sie doch entscheidende Weichenstellungen in der persönlichen Entwicklung junger Menschen.
Liebe Grüße
Ekki

 Sylvia meinte dazu am 02.12.17:
Ich hörte meinen Großeltern und Eltern gerne zu, wenn sie über ihre Erlebnisse sprachen. Banal ist gar nichts in diesem Zusammenhang. Du erzählst aus einer Zeit, die komplett anders war und die nicht vergessen werden sollte, weil ich den Vergleich wichtig finde. Nicht alles heutzutage ist gut und so war es früher auch.
LG Sylvia

 AZU20 (02.12.17)
Lieber Ekki, könnte Ähnliches berichten, denn damals ging man doch nicht gleich ins Bett mit einer, die einem gefiel, oder? Wir waren eine größere gemischte Gruppe und feierten häufig im Jugendheim. An den Wänden Flaschenbatterien. Viele von denen kenne ich heute noch, Alkoholiker wurden wir keine und die meisten sind glücklich verheiratet. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Danke, Armin, damals war man sehr verklemmt und heute hüpft man gleich ins Bett. Extreme kennzeichnen unterschiedliche Zeiten.
LG
Ekki

Antwort geändert am 02.12.2017 um 15:21 Uhr
Dieter Wal (58)
(02.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Lieber Dieter,
wenn auch du in der Vermeidung von Suchtverhalten und beglückendem Sexualverhalten einen Weg zum Erwachsenwerden siehst, kann es nicht ganz falsch sein.
Ich grüße dich auch im Namen von Rosi herzlich
Ekki
Leila (50)
(02.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Grazie, liebe Leila, dieses emanzpierte Verhalten der jungen Dame hat mich sehr beeindruckt, meineMutteer nicht minder. Es war in den 50er Jahren sehr selten.
Beste Grüße zurück
Ekki
elvis1951 (70)
(02.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Danke, Klaus, es ist immer schön zu hören, dass die Partnersuche zu einer stabilen Beziehung geführt hat.
LG
Ekki
Gerhard-W. (78)
(02.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Merci. Ja, Gerhard, an diese Warnungen kann ich mich auch noch gut erinnern. Die sexuellen Verklemmungen rührten auch daher, dass frühzeitiges Heiratenmüssen als Schande dargestellt wurde.
LG
Ekki
Sinshenatty (53)
(02.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Lieber Sin, die erwachsen sind, ohne dass sie es wissen, haben den Charme der Jugend nie verloren.
LG
Ekki

 harzgebirgler (02.12.17)
oft sind tiefer am empfinden
die ein wenig später zünden!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.12.17:
Liebst du einen späten Zünder,
das geht tiefer, ist gesünder.
Merci und LG
Ekki

 Didi.Costaire (02.12.17)
Lieber zuerst der Alkohol und dann die Frauen als umgekehrt.
Auch der Konfirmationsanzug hat das kleine Fiasko überstanden und wurde noch länger aufgetragen, wie ja vor kurzem hier zu lesen war.
Schöne Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.12.17:
Merci, ich bewundere dein Gedächtnis, Dirk. Der Konfirmationsanzug hat mich tatsächlich trotz des kleinen Fiaskos noch lange begleitet.
Schöne Grüße
Ekki

 GastIltis (02.12.17)
Hallo Ekki, ein schöner, lesenswerter Text. Nun waren die Bedingungen z.T. bei uns etwas anders; ich war während des Studiums Abstinenzler, konnte also die alkoholischen Eskapaden, bei denen ich zugegen war, nur von oben herab beurteilen. Dabei hatten wir im Studium jeweils im Herbst einen dreiwöchentlichen Landeinsatz in Mecklenburg oder Brandenburg zu absolvieren, in solch „schönen“ Orten wie Schwabberow bei Hagenow oder Viesecke in der Prignitz, der aus dem Sammeln von Kartoffeln bestand. Abends ging es dann in die Dorfkneipe, um zur Freude der LPG-Bauern die bekannten oder weniger bekannten Lieder abzusingen. Die teils Besoffenen haben dann in der Nacht unter der Dorflinde „Spaniens Himmel breitet seine Sterne“, das uns bekannte Lied der Spanienkämpfer intoniert. Oder versucht, es zu intonieren. Irgendwann hatte ich mir ein Alt-Saxophon besorgt und durfte dann gegen Freibier immer Lili Marleen spielen. Das andere Kapitel, von dem du berichtet hast, war für mich interessanter; da war ich früher aktiv. Wenn auch verhältnismäßig zurückhaltend. Wie ich jetzt ja auch bin! Ach Ekki, eine schöne Zeit! Danke für die Erinnerung und LG von Giltis.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.12.17:
Grazie Giltis, du solltest deine Erinnerungen auch aufschreiben. Das, was du hier als Kostprobe lieferst, macht Appetit auf mehr.
Es spricht für die LPG-Bauern, dass sie Lili Marleen mochten. Ich höre es von Zeit zu Zeit immer wieder, am liebsten in der Version von Marlene Dietrich.
LG
Ekki

 Rothenfels (02.12.17)
Du schreibst hier in angenehm lesenswertem Stil eine Geschichte, die gar nicht mal so vergangen ist, wie du sie hier kontextualisierst. Ich würde sogar so weit gehen, das als "zeitlos" zu beschreiben und das soll ein Kompliment sein. Ich habe deine Geschichte auch erlebt. In einer anderen emanzipierteren Zeit, aber sehr ähnlich.

Ich glaube auch, dass Umgang mit Alkohol in diesem Alter die jugendlichen "lernen" lässt, damit umzugehen. Abstinenz wie bei den US-Amerikanern führt schnell zu Exzessen. Natürlich kann das auch bei uns vorkommen, aber die öffentliche Vorbild- (und Abschreck-)Funktion im Umgang mit "sanften Drogen" ist wohl am sinnvollsten. Übrigens ist Cannabis heute wohl der Alkohol von damals: eine "sanfte" Droge, deren Wirkung durch Tabuisierung und fehlende Vorbilder im Umgang damit unterschätzt wird.

Herzliche Grüße,
TvR

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.12.17:
Lieber TvR, es freut mich sehr, dass du meine Geschichte für repräsentativ über die 50er Jahre hinaus hältst.
Ich denke auch, dass es besser ist, den Umgang mit sanften Drogen zu lernen, weil Abstinenz die Gefahr von Exzessen mit sich bringt.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (02.12.17)
Beim Lesen spürte ich den Flügelschlag des süßen Vogel Jugend!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.12.17:
Merci, das hast du wunderschön ausgedrückt, Tasso.
Herzliche Grüße
Ekki
Sabira (58)
(03.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.12.17:
Liebe Sabira,
ich danke dir sehr für die Empfehlung und Favorisierung sowie für deine charmanten Zeien.
LG
Ekki
Fabi (50) meinte dazu am 06.12.17:
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