Lila

Bericht zum Thema Tiere

von  Graeculus

Mitte der 80er Jahre ist uns, die wir damals bereits drei Katzen hatten, eine vierte, schon alte Katze zugelaufen. Sie war auf der Suche nach Futter und einem warmen Schlafplatz, aber sie vertrug sich überhaupt nicht mit unseren anderen Katzen – oder die sich nicht mit ihr. Da herrschte unerbittliche Feindschaft. Ins Haus konnten wir sie deshalb nicht lassen, aber wir stellten ihr Futter vor die Türe. Für sie war damit der Fall entschieden: Sie blieb in unserer Nähe und fand bald durch ein offengehaltenes Fenster im Keller Unterschlupf und Schutz vor dem hereinbrechenden Winter.

Unsere kleinen Kinder besaßen damals das Privileg, allen Katzen Namen geben zu dürfen, und in diesem Falle fiel ihre Wahl – weiß der Himmel, warum – auf Lila.

Lila blieb uns treu, allein in ihrem Keller lebend und tagsüber, sofern die anderen Katzen keinen Ausgang hatten, in der Umgebung des Hauses umherschweifend. An der Feindseligkeit ihrer Artgenossen – nach Kindereinfällen Tater, Miau und Nuppi genannt, später um die Zugänge Teufel und Meerschwein erweitert – änderte sich nichts. Es war auffallend, daß die Alteingesessenen Neuankömmlinge zwar ohne Begeisterung, aber letztlich doch akzeptierten. Nicht jedoch Lila: sie niemals; sie blieb immer der Erzfeind, der Gottseibeiuns aller anderen Katzen.

Lila ließ selbst Menschen, uns eingeschlossen, nicht gerne an sich heran. Sie hochzuheben oder gar zu streicheln, löste bei ihr eine Krise aus. Da wir ihr ja nie etwas getan hatten, sie vielmehr mit allem versorgten, was sie brauchte, das Katzenklo eingeschlossen, konnte ihre grundsätzliche Distanziertheit nicht speziell mit uns zu tun haben. Ihren abseitigen Platz in unserer Gemeinschaft verteidigte sie sogar mit Zähnen und Krallen. Tater & Co. wußten, daß jeder Versuch, sie zu vertreiben, mit blutigen Wunden auf beiden Seiten endete und letztlich zum Scheitern verurteilt war. Lila mußte irgendwo und irgendwann sehr schlechte Erfahrungen mit dem Rest der Welt gemacht haben. Sie blieb eine unabänderbare Einzelgängerin. Schnurren haben wir sie nur höchst selten gehört.

Im Laufe der Jahre verlor sie ihre Zähne und ihr Gehör. Das Drama, sie einem Tierarzt vorzustellen – und sei es nur zu einer Impfung –, wollten wir ihr und uns ersparen.

Schließlich kam sogar ein Schlaganfall hinzu. Ich ging hinter ihr, als sie die Kellertreppe in Richtung Garten erklomm, und sah, wie sie der Schlag traf. Lila kippte zur Seite, rappelte sich nach einiger Zeit mühsam wieder auf und humpelte, torkelte weiter. Die Folgen milderten sich nach einigen Tagen etwas, und sie hielt noch zwei Jahre durch, unterbrochen von, wie es uns schien, weiteren, kleineren Schlaganfällen. Aber wenn sie sich zum Beispiel ungestört in der Herbstsonne wärmen konnte – es existiert ein Photo davon –, dann machte sie einen zufriedenen Eindruck. Die geringe Zahl ihrer Bedürfnisse erleichterte ihr das sicherlich.

Am Ende aber taumelte sie nur noch durch die Gegend. Anscheinend war sie nun auch blind, denn man mußte das Futter direkt vor sie stellen oder – sogar das ließ sie jetzt aus Mangel an Widerstandskräften zu – sie zum Futternapf tragen.

Auffallenderweise stellten die anderen Katzen jetzt ihre aggressiven Akte gegen Lila ein; vielmehr gingen sie ihr aus dem Weg, als ob sie ihnen so unheimlich wäre wie uns ein Zombie. Daher konnten wir Lila in ihren letzten Wochen sogar in die wärmere Wohnung nehmen. Ob das im Vergleich zum kalten Keller eine Annehmlichkeit für sie darstellte, konnten wir ihren Reaktionen nicht mehr entnehmen.

Ganz am Ende hat Lila dann doch noch eine Tierärztin kennengelernt. Es gab keinen Widerstand mehr, und es war ihre letzte Reise. Sie war am Ende ihres einsamen Lebens angekommen, das sie, so karg es auch war, doch in so vielen Kämpfen hartnäckig behauptet hatte.

Ich habe von Lila viel über das Leben gelernt.
Sollte ich wider mein Erwarten eines Tages vor dem Gericht unseres Schöpfers stehen, dann hoffe ich, daß Lila an meine Seite treten und sagen wird: „So ganz und gar schlecht war er nicht. Fürs Fegefeuer reicht es gerade noch.“

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Kommentare zu diesem Text


 Annabell (28.04.20)
Hallo Graeculus,
... daß die "alteingesessenen" Neuankömmlinge = klein geschrieben, bitte ändern.
LG Annabell

 Lluviagata meinte dazu am 28.04.20:
[Es war auffallend, daß die Alteingesessenen (die einen Katzen) Neuankömmlinge (die anderen Katzen) zwar ohne Begeisterung, aber letztlich doch akzeptierten.]

Hallo Annabell,
wenn man richtig liest, ergibt sich der Sinn dieser Formulierung.

Werter Graeculus,
ich musste das tun, gerade, weil das ein schlitzohriger Satz ist. So kenne ich dich ... ;)

Liebe Grüße
Llu ♥

 Graeculus antwortete darauf am 28.04.20:
An Annabell:

Eine gelungene Paradoxie weiß ich durchaus zu schätzen, aber "die alteingesessenen [Adjektiv] Neuankömmlinge [Substantiv]" ergibt ja doch keinerlei Sinn.
Nein, das ist schon richtig so, wie es da steht.

An die Regenkatze:

Du verstehst mich.

 ViktorVanHynthersin (28.04.20)
Ein Leben ohne Katze ist möglich, aber sinnlos - um es mit Loriot zu sagen. Sie sind eine Bereicherung und wer kann und mag, kann von ihnen lernen: z.B. leise durch das Leben zu gehen. Gerne gelesen und erinnert.
Herzlichst
Viktor

 Graeculus schrieb daraufhin am 28.04.20:
Danke, Viktor. Mir ist immer wieder aufgefallen, wie individuell sie sind. Und die Lila, der ich hier eine Erinnerung gewidmet habe, die war schon ganz speziell.
Daß sie eine ungute Prägung in ihrer Frühphase erlebt und erlitten hatte, kann ich nur vermuten.

Anscheinend haben auch in Deinem Leben Katzen eine wichtige Rolle gespielt. Ja, wie leise sie sein können!

 Lluviagata (28.04.20)
Ein Text, der mich, so und nicht nur als Regenkatse, besonders berührt. Danke dafür.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Graeculus äußerte darauf am 28.04.20:
Ich weiß, daß uns da etwas verbindet.
Wir werden sehen, was wir in dieser Hinsicht bei Lotta vorfinden - falls man uns die Reise bzw. das Reisen erlaubt.

Herzlichen Gruß
Wolfgang alias Graeculus

 LottaManguetti (28.04.20)
Wunderbar ge- und beschrieben!
Ich erspare dir jetzt meine Erfahrungen mit Miesi Mutzenbacher (auch die 2 Meter-Katze genannt, weil sie sich stets in unserer Nähe aufhält - mittlerweile klammert sie!) , die uns vor etwa einem Jahr direkt aus dem Wald zulief, kann aber die Liebe nachvollziehen, die ein Mensch zu so einem Wesen, egal wie sein Charakter ist, entwickeln kann. Puh, wattn Satz! :D
Nach deinen Schilderungen muss man Lila mögen. Man fühlt mit.

Grüße
Lotta

 Graeculus ergänzte dazu am 28.04.20:
Nicht nur die Menschen, auch die Katzen muß man so nehmen, wie sie sind.
Jetzt haben wir 'nur' noch einen Hund. Der guckt einen immer mit diesem Sag-mir-was-ich-tun-soll-Blick an.
Canes ad servitutem parati.

Ich hoffe, wir erleben Miesi Mutzenbacher. Wie man sich einer Katze nähert und vor allem: wie nicht, das weiß ich hoffentlich noch.

 Willibald (28.04.20)
Wenn Katzen richtig reden könnten, würden sie es nicht tun. Sie sagen uns so schon sehr viel. Und deine Geschichte, lieber Graeculus, fasst das in Worte.




greetse
ww

Kommentar geändert am 28.04.2020 um 10:17 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 28.04.20:
"Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir würden ihn nicht verstehen." So oder doch so ähnlich hat es Wittgenstein geschrieben.
Und auch die gehören ja zu den Felidae.
Deine Version ist mindestens ebensogut. Es wird ohnehin zu viel gesprochen.

 Regina (28.04.20)
Sie macht fast den Eindruck einer Wildkatze oder verwilderten. Verhalten der Katzen sehr anschaulich beschrieben.

 Graeculus meinte dazu am 28.04.20:
Nein, die war nicht wild. Denn sie war überhaupt nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Gejagt hat sie nie. Deshalb war sie so verzweifelt auf der Suche nach einer Unterkunft, die sie, sobald bei uns gefunden, mit aller Leidenschaft verteidigt hat gegen ihre Konkurrenz.
Ihre große Distanziertheit muß auf unglücklichen Erfahrungen beruhen - über die sie uns leider nichts mitteilen konnte.

Auch verwilderte Katzen habe ich kennengelernt. Mein lieber Schnolly! Nur scharf angeguckt, da habe ich schon eine übergezogen bekommen.
Von dieser Art war Lila nicht, sondern eher extrem furchtsam.
Aha (53)
(28.04.20)
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 Graeculus meinte dazu am 28.04.20:
Ich glaube ja nicht dran. Es ist einfach gut zu wissen, daß im Ernstfall das eine oder andere Wesen seine Pfote für mich ins Feuer (der Hölle) legen würde.

 EkkehartMittelberg (28.04.20)
hallo Graeculus, deine Erzählung über die einzelgängerische Katze gefällt mir, weil sie Empfinden für das Tier weckt, aber nicht rührselig geschrieben ist. Tierfreunde verfallen nicht selten in Sentimentalität.
LG
Ekki

 Artname meinte dazu am 28.04.20:
Empathie schließt Phantasie oder gar pure Behauptungen nicht aus. Die Geschichte berührt mich, weil sie mir glaubwürdig. beobachtet und geschrieben erscheint. Klasse!

lg

 Graeculus meinte dazu am 28.04.20:
Ich glaube, Sentimentalität (also ein vorgestanztes Gefühlsleben) ist mir fremd. Das Gefühl, das ich mit meiner Erinnerung an Lila verbinde, ist von anderer Art. Übrigens auch mit einigen anderen Katzen, deren Schicksal nicht ganz so tragisch verlaufen ist.
Ein Kater ist mir morgens zur Begrüßung mit ziemlicher Regelmäßigkeit vom Boden aus auf die Schulter gesprungen, was bei einem Menschen von 1,90 Meter Länge keine kleine Leistung darstellt. Ist vom Auto überfahren worden - fast schon ein normales Katzenschicksal.

Danke!

 Dieter Wal (29.04.20)
"Sollte ich wider mein Erwarten eines Tages vor dem Gericht unseres Schöpfers stehen," Gott ist kein Arschloch. Meine Erfahrung.

Berührende Anekdote.

 Graeculus meinte dazu am 29.04.20:
Danke.

"This old bastard, he doesn't exist." (Samuel Beckett über Gott)

 AvaLiam (30.04.20)
Auf dem Bauernhof, auf dem ich ein paar Jahre meiner Kindheit und Jugend verbringen durfte, lebten eine Menge Katzen. Die Anzahl war immer ein wenig von den Jahreszeiten abhängig. Manche Male zählten wir 12. Ab und an kamen 2 Wildkatzen aus dem Wald.

All diese Katzen waren so unterschiedlicher Natur. Und auch Einzelgänger waren unter Ihnen zu finden.
Es war schon sehr spannend, ihnen zuzuschauen im Spiel, im Kampf, im gesamten Mit- und Untereinander.

Eine Katze darunter war besonders speziell. Sie wurde von allen gemieden, oder vielmehr verjagt. Von uns bereitgestelltes Futter bekam sie selten ab. Sie torkelte - und auch sonst war ihre ganze Art getragen von dem Gedanken, dass sie vielleicht behindert war. Sie war krank, der Katzenschnupfen machte ihr zu schaffen.
Häufig fiel sie von der Treppe der Terrasse, da sie sich nicht halten konnte auf den Stufen.

Dennoch war SIE es, die zweimal von einem Auto angefahren wurde und ihre 6 toten Kinder überlebte. Sie überlebte ALLE.

Ich hatte sie beinahe vergessen, lange nicht mehr an sie gedacht und ihren Lebenswillen, ihre Stärke und Treue.
Deine Zeilen haben mir die Erinnerungen an sie ins Herz gelegt und mir heute Vormittag die rechte Motivation für den Tag geschenkt.

Vielen Dank. Liebe Grüße - Ava

 Graeculus meinte dazu am 30.04.20:
Das ist ja überraschend ähnlich! Ob das als einen bestimmten Katzentyp gibt? Offenbar auch für Dich beeindruckend.

Danke für Deine Version der Geschichte.
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