Wie sterben?

Essay zum Thema Sterben

von  Graeculus

Wie möchtest du eigentlich sterben? Abgesehen davon, daß diese Frage bei vielen Menschen anscheinend einen wunden Punkt berührt, erhält man darauf ganz unterschiedliche Antworten: Während die einen sich einen raschen, unerwarteten Tod (möglichst im Schlaf) wünschen, ziehen die anderen einen lange vorher bekannten Tod vor, der ihnen genügend Zeit läßt, all das vorzubereiten, was ihnen in dieser Hinsicht am Herzen liegt. Möglichst schmerzfrei sollte er sein, der eigene Tod – darin sind sich die weitaus meisten einig.

 

Die alte christliche Ansicht, durch Schmerzen könne man, wie das Symbol des Kreuzes es verkündet, Sünden abbüßen und so leichteren Zugang zum Himmel erlangen, erfreut sich keiner großen Popularität mehr. Überhaupt meint man bei den Christen weit weniger Freude auf den Tod und das „ewige Leben danach“ feststellen zu können, als es ihrem Glauben entspräche. Und vollends fremd ist es den allermeisten von uns, wie Sokrates den Tod als die Heilung einer Krankheit namens Leben anzusehen.

 

Nun sind unsere Chancen, auf die Art unseres Sterbens wesentlichen Einfluß zu nehmen, sehr begrenzt. Natürlich kann man durch eine gesunde Lebensweise die Wahrscheinlichkeit einer längeren Lebensdauer vergrößern, aber mehr nicht. Vor allem für die Art unseres Sterbens, das letztlich ja doch unumgänglich ist, besagt das wenig. Wenn es nicht der Lungenkrebs ist, weil man das Rauchen gemieden hat, dann kann es doch ein anderer, nicht weniger unangenehmer Krebstod sein.

 

„O Herr, gib jedem seinen Tod“, betete einst Rainer Maria Rilke; aber abgesehen davon, daß dies dem Herrn noch reichlich Spielraum einräumt, wird es wohl so viel (oder so wenig) nützen wie Gebete auch sonst.

 

Wer nun wirklich Umstände und Zeitpunkt seines Todes selber festlegen möchte, dem bleibt nichts anderes übrig, als auch selber für den eigenen Tod zu sorgen. Viele lehnen dies ab, obgleich das Bundesverfassungsgericht uns sogar ein Recht darauf zubilligt; das Recht auf Leben bedeute keine Pflicht zu leben. Immerhin haben wir also an dieser Stelle wirklich eine Wahl.

 

Kann uns der Blick auf die anderen Tiere belehren? Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß sie sich mit der Frage befassen, daß sie – wie wir es können – darüber nachdenken. Sie wollen nicht sterben und tun alles, um es zu vermeiden; aber falls das Schicksal sie nicht ungewollt ereilt, dann erlischt doch irgendwann der Wunsch (oder die Kraft), weiterleben zu wollen. Sie resignieren, sie ergeben sich. Kein schlechter Tod, weil er keinen Willen mehr bricht. Er ist allerdings nicht die Regel, denn in den meisten Fällen schlägt der Tod doch vorher zu.

 

Soweit es unsere Haustiere betrifft, haben wir Menschen eine interessante Erfindung gemacht: den Gnadentod. D.h. wir beurteilen das Leben eines Mittieres als überwiegend leidvoll und setzen ihm deshalb ein Ende. Irgendwie scheint uns nicht ganz wohl dabei zu sein, denn meist verwenden wir dabei die doppelt verschleiernde Bezeichnung „mußten (!) wir einschläfern (!) lassen“.

Daß es seltsam ist mit diesem „Gnadentod“, erkennt man wohl auch daran, daß kaum jemand es für angemessen hält, diese Gnade auch unheilbar kranken Menschen zukommen zu lassen. Viele wollen es nicht einmal dann tun, wenn der Betreffende darum bittet.

 

Wie also sterben?

 

Es geht uns mit damit wohl ähnlich wie den Spartanern der Antike, die auf die Frage Philipps von Makedonien (des Vaters Alexanders des Großen), ob er als Freund oder als Feind zu ihnen kommen solle, denkbar knapp antworteten: „οὐδέτερον – keins von beiden!“ Diese Option haben wir freilich ebensowenig, wie die Spartaner sie einst hatten.



Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 tueichler (20.02.22, 03:41)
So, da muss ich mal kommentieren. Wiewohl sich das Essay mit dem Sterben beschäftigt, ist es doch - aus meiner Sicht - bis auf den letzten Abschnitt ein wenig am Thema gescheitert. Insbesondere stört mich diese Aussage:

„Überhaupt meint man bei den Christen weit weniger Freude auf den Tod und das „ewige Leben danach“ feststellen zu können, als es ihrem Glauben entspräche. „

Man kann den Christen, so sie sich pauschal zusammenfassen lassen, nicht eine gewünschte Todesform oder Freude am Tod unterstellen. Das bedient ein Narrativ, das nur von der katholischen Kirche und dazu noch nur in einem begrenzten geschichtlichen Zeitraum (nämlich vor jenem, der medizinische Behandlung allgemein verfügbar und erschwinglich machte) aus Gründen des Machterhaltes tradiert wurde.
Heute ist die Christenheit vielfältig - Katholiken, die obwohl ‚allgemein‘ nur einen Teil ausmachen, Protestanten, die in einer Vielfalt ihren Glauben leben (Lutheraner, Freikirchliche, Zeugen Jehovas, 7-Tages-Adventisten, etc.), Russisch Orthodoxe, Griechisch Orthodoxe, etc.
Auch die Frage der Freude am Tod ist meines Erachtens nach nicht richtig verstanden. Dazu bedarf es der Einordnung des Todesbegriffes. Tod kann im christlichen Glauben auch bedeuten, die Zeit ohne Glauben zu benennen, aus der man aufersteht - und so zum Leben findet, wenn man glauben lernt oder Glauben erfährt. Kindliches Herangehen ans Sterben und Auferstehen sind, glaube ich, hier nicht angebracht. Vielmehr, finde ich, sollte man das ‚Auferstehen‘ als Begriff deuten, der am ehesten mit ‚Erleuchtung‘ oder Erkenntnis verstanden werden sollte. Insofern wäre die ‚Freude auf den Tod‘ allerhöchstens heute vergleichbar mit dem Ende des Nicht-Glaubens, also einem Ende des sich-selbst-nicht-Erkennens.
Wobei Glauben höchst privat und für jeden nur selbst interpretierbar ist - jedenfalls aus Sicht eines Evangelen.

😎

 Graeculus meinte dazu am 20.02.22 um 17:56:
Ein Christ ist doch der, welcher daran glaubt, daß:
- Jesus von den Toten auferstanden ist,
- er dadurch den Tod besiegt und
- uns den Weg in den Himmel eröffnet hat.
Was immer dieser Himmel sein mag: er ist das Ziel der Sehnsucht, und der Weg zu diesem Ziel führt durch den Tod.
Nicht zufällig habe ich das Kreuz als Symbol des Christentums erwähnt.

In diesen grundlegenden Annahmen sollten alle übereinstimmen, die sich Christen nennen. Dabei gebe ich zu, daß sie in der modernen Theologie oft in einer kühnen Interpretation auftreten, der ich nicht zutraue, den Menschen Trost und Hoffnung zu vermitteln.

Fragt man einen Christen, einen ganz normalen Christen: Glaubst du an die Auferstehung und das ewige Leben?, und er bejaht das, dann müßte das doch Konsequenzen haben für seine Einstellung zum Tode, oder? Davon sehe ich wenig, und christliche Todesanzeigen sind durchweg Traueranzeigen.

Für Deine spezielle Deutung der Auferstehung als Beginn des Glaubens hätte ich die Frage: Glauben woran?

 Dieter Wal antwortete darauf am 20.02.22 um 21:40:
christliche Todesanzeigen sind durchweg Traueranzeigen.
@Graeculus:

Das Zitat auf den Tod unserer Mutter in der Traueranzeige lautet: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

 Graeculus schrieb daraufhin am 20.02.22 um 23:46:
Da habe ich mich mit einer Verallgemeinerung vermutlich zu stark aus dem Fenster gelehnt. Zumal ich da auf einen subjektiven Eindruck und nicht auf eine Statistik zurückgreife.
Was ist Dein Eindruck beim Gesrpäch mit Christen?

Immerhin: An Allerheiligen trägt der Priester weiß, an Allerseelen (Fest zum Gedenken der Toten) schwarz.
Das fällt mir gerade ein.

 Terminator (20.02.22, 04:10)
Ein Essay wie ein Fussballspiel mit vielen Toren. Fangen wir mit dem 1:0 an:
Überhaupt meint man bei den Christen weit weniger Freude auf den Tod und das „ewige Leben danach“ feststellen zu können, als es ihrem Glauben entspräche.
Das war für mich immer entlarvend, als ich selber Christ war. Immer wenn ich mit der christlichen Einstellung zum Tod/Sterben ankam, löste das bei Mitchristen nur Befremden aus. Keiner schien wirklich an all die eschatologischen Dogmen zu glauben, die er sonntäglich im Gebet murmelte. Für mich ist das eine noch größere Heuchelei, als Wasser zu predigen und Wein zu trinken, den hier geht es um den Kern einer Religion, der eben nicht die Moral, sondern die Transzendenz ist.

 Graeculus äußerte darauf am 20.02.22 um 17:57:
Da stimme ich völlig mit Dir überein - und nun schau Dir an, wie anders tueichler das auffaßt (wenn auch für mich voerst nicht konsistent).

 Terminator ergänzte dazu am 21.02.22 um 05:09:
Die Möglichkeit, christliche Glaubensinhalte beliebig zu interpretieren, widerlegt nicht das zentrale Argument: würden sie tatsächlich an die Auferstehung glauben, würden sie sich auf den Tod etwas mehr freuen.

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 16:27:
Stimmt. Und aus der Bibel (oder aus dem Nietzsche) sucht man sich heraus, was man gerade sagen will; es klingt dann gleich imposanter.

 diestelzie (20.02.22, 11:15)
Sterben ist eins der Themen, an denen ich nicht so ohne weiteres vorbei komme. Das ist natürlich meinem Job geschuldet, aber auch privaten Erlebnissen. Ich könnte jetzt gut aus dem "Nähkästchen plaudern", würde dabei aber kein Ende finden, fürchte ich.

Sterben gehört zum Leben. Wer geboren wird, muss irgendwann sterben. Das ist einfach so.

Ich finde natürlich erst einmal die Frage: "Wie möchte ich nicht sterben?" interessanter, weil ich mir im Anschluss den Rest überlegen kann.
Einen kranken oder alten (oder alten kranken) Menschen der nicht im Krankenhaus sterben möchte, sollte verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt werden. Fakt ist ja, dass man in diesem Zustand des kurz bevorstehenden Todes nicht mehr alleine klarkommt.
Sind Angehörige da, stoßen diese meist ebenfalls an die psychischen und physischen Grenzen ihrer Belastbarkeit. Wichtig ist, dass jeder weiß, wo es Hilfe gibt.
Hier kommt das von mir sehr geschätzte Hospiz ins Spiel. Das gibt es in ambulanter oder stationärer Form. Was immer der Sterbende als angenehm empfindet, wird möglich gemacht. Das geht bei der Schmerzbehandlung los über Physiotherapie, Musiktherapie, Aromatherapie usw. Wichtig ist auch, dass man hier sterben DARF.

In der Klinik wird ein verstorbener Patient leider immer noch als "Scheitern des Arztes" angesehen und dementsprechend am Leben gehalten. Meist ist das für die Patienten sehr qualvoll.
Sterben sollte unbedingt auch in der Familie ein Thema sein. Natürlich nicht ständig, sondern soweit, dass die Angehörigen bescheid wissen, wenn der Tag X kommt. Dass er kommt ist nun mal so sicher wie "Das Amen in der Kirche ".

Das war mein Wort zum Sonntag :) .
Liebe Grüße
Kerstin

 Graeculus meinte dazu am 20.02.22 um 18:04:
Danke für Dein Wort zum Sonntag, liebe Kerstin. Mein Eindruck beim Schreiben war - ähnlich wie bei Dir -, daß die meisten Menschen eine viel präzisere Vorstellung davon haben, wie sie nicht sterben wollen.
Zu einer positiven Gestaltung des Sterbens tragen die Hospize bei; das habe ich ausgelassen, u.a. deswegen, weil ich keinerlei Erfahrung damit habe. Und ich bin stark von Erfahrungen ausgegangen: Erfahrungen mit Sterbenden aus meiner Familie, Erfahrungen aus Gesprächen.

Übrigens habe ich ebenfalls nicht geschrieben, wie ich selbst sterben möchte. Eher wollte ich zum Nachdenken über die Frage anregen. In der Tat habe ich eine ziemlich klare Vorstellung (soweit mein Wünschen dabei eine Rolle spielt), und sie ist an einem Vorbild aus der Familie orientiert. Mit dem Sterben im Krankenhaus hat sie nichts zu tun - schon aus dem Grund nicht, den Du benennst.

Ob es so kommen wird wie gewünscht, das wird man sehen.

 Regina (20.02.22, 11:26)
Lieber Graeculus, als Kulturkritik greift der Text etwas kurz. Auf Anhieb fallen mir gleich drei Bach-Choräle ein, die deiner Ansicht über das "todesfeindliche" Christentum zuwider laufen: BWV 82, Cantata, Aria "ich freue mich auf meinen Tod, BWV 227 "Jesu, meine Freude" und BWV 478, Motette "komm, süßer Tod". Das sind lange noch nicht alle. 
Aber auch nicht-christliche, "todesfreundlichere" Kulturen, wie etwa Tibeter, stürzen sich keineswegs jubelnd vom Balkon und auch du als Atheist wärest nicht erfreut, wenn deine Kinder, um ihre Eltern herauszufordern, Todespartys mit Fenstersturz feiern würden.
Schließlich lässt du noch das Thema Tiere anklingen, die meist einem Fluchtreflex folgen, wenn Todesgefahr droht. Insekten und Vögel verkriechen sich, wenn Kälte naht oder fliegen nach Afrika, während Pflanzen dem Wärme-Kälte-Rhythmus folgen mit ihren Lebenskräften.
Es ist opportun, den einmal geborenen Körper möglichst lange zu erhalten, anstatt andauernd vor fahrende Autos zu springen. Das Leiden am Tod betrifft aber mehr die Angehörigen, nach langer Bettlägerigkeit kann er eine Erlösung sein. Nahtoderfahrene (bei Elisabeth Kübler-Ross, bei Bernard Jakoby) berichten über große Ruhe, die eintritt. Warum Tod als Tabuthema gehandelt wird, diese Frage stellst du zurecht. Das ganze Thema könnte man breiter anlegen. Der Gnadentod gehört aber nicht dazu, da dieser kein natürlicher ist.

 Graeculus meinte dazu am 20.02.22 um 18:10:
Der Tod ist oft kein natürlicher. Man kann sogar bezweifeln, ob ein auf einen bestimmten Lebenswandel zurückgehender Tod ("gelebt, geliebt, geraucht, gesoffen ...") natürlich ist.

Was ist eigentlich natürlich?
Wenn ein Tier von einem Raubtier getötet wird, ist das doch natürlich, oder?
Mir verschwimmt der Begriff.

Daß J. S. Bach eine andere, eher konsequent christliche Einstellung zum Tode hatte, gebe ich gerne zu; allerdings habe ich mich auf diejenigen Christen bezogen, die ich so kenne.
Die Märtyrer der Frühkirche wären andere Gegenbeispiele.

Bei den Tibetern ist es doch so, daß der Tod für sie zu einer Wiedergeburt führt, die sie nicht herbeiwünschen, oder? Insofern haben sie keinen Grund, mit Freude an den Tod zu denken. Bis zum endlichen Nirvâna.

 LotharAtzert meinte dazu am 23.02.22 um 10:57:
Tibeter denken, und das ist jetzt meine Erfahrung, mit Freude. Ob ans Leben, den Tod, oder sonstwas - sie denken mit Freude. Und wenn sie einmal nicht denken, lächeln sie zumeist.

Und auch wenn du es nicht gerne hörst: im tantrischen Buddhismus ist zwischen Samsara und Nirvana kein Unterschied. Nur das vergängliche Ich unterscheidet.

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:31:
Das mag so sein. Ich gestehe sowohl J. S. Bach als auch 'den' Tibetern (falls es soetwas gibt) alles zu, was sie möchten - nur nicht, daß ihre Ansicht über ein Leben nach dem Tod (= Ende der Gehirnfunktionen) wahr sei. Das nicht.

Die andere Frage, ob es zwischen Samsara und Nirvana keinen Unterschied gebe, ist logisch problematisch. Erstmal kommt es auf eine Definition an, und dann kann man überlegen, ob es sich um einen Fall wie bei Morgenstern und Abendstern handelt: unterschiedlicher Sinn (= Gebrauch der Wörter), aber gleiche Bedeutung (= Bezug auf den selben Gegenstand: Planet Venus).
Man sagt nicht morgens: "Schau, wie schön der Abendstern leuchtet!" Der Unterschied zwischen Sinn/Wortgebrauch einerseits und Bedeutung andererseits ist elementar.
Der Satz "Zwischen Samsara und Nirvana gibt es keinen Unterschied" ist also nicht richtig, sofern die Wörter unterschiedlich (in unterschiedlichem Zusammenhang) gebraucht werden.
Das könnte das sein, was du mit "nur das vergängliche Ich unterscheidet" meinst. Das zumindest tut es, und insofern hat der Unterschied einen Sinn.

 LotharAtzert meinte dazu am 24.02.22 um 10:31:
Gut, wenn dich das zufrieden stellt
Aber folgt denn im konsequenten logischen Denken nicht auf These und Antithese immer die Synthese? Worin sonst sollte der Sinn allen Unterscheidens liegen? Wenn ich Leben und Sterben als Gegensätze habe, so kann da doch plötzlich nicht das integrierende Dritte unterbleiben. (dh. es kann schon, aber dann fehlt eben das Wesentliche) Und wenn doch, - wie begründest du‘s?

Leben und Sterben gleicht Auf- und Abbau. Das integrierende Dritte beträfe unter anderem die Erhaltung des Gleichgewichtes im Leben und danach erst das „wie sterben“. Denn – und so sagen übereinstimmend die fernöstlichen Systeme – „wer nicht zu leben weiß, der weiß auch nicht zu sterben“.



Antwort geändert am 24.02.2022 um 10:56 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 24.02.22 um 22:58:
Darauf komme ich zurück - aber aus naheliegenden Gründen nicht heute.

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:31:
Ich sehe immer noch keine Definition von "Samsara" und "Nirvana". Um sagen zu können, daß es sich um Gegensätze im Sinne der dialektischen Logik, die zu einer Synthese führt, handelt, müßtest du das schon definieren.

Vorab, ohne Definition, setze ich es einmal mit "Sein" und "Nichts" im Anfangskapitel von Hegels "Wissenschaft der Logik" (WdL) gleich - wo sich übrigens auch eine interessante Anmerkung über Buddhismus findet.
Die Synthese dieses Gegensatzes lautet bei Hegel: Werden.
Und zwar mit den beiden Seiten des Entstehens und Vergehens. Deren Synthese wiederum ist das (entstehende und vergehende) Dasein. Dessen beide Seiten sind Etwas und Anderes (z.B. ein Huhn, das andere Huhn oder du und ich).
Hier können wir den (natürlich stark verkürzten) Gedankengang der WdL wohl abbrechen.

Zum Dasein gehören, wie gesagt, Entstehen und Vergehen. D.h. du ich ich, wie die Hühner entstehen und vergehen wir.  Das gilt für uns als leibliche Individuen. Eine noch höhere Synthese vermittelt uns der Geist. Das, was geistig ist an uns, unsere Gedanken (sofern sie etwas taugen), das überdauert. Mit der Person Shakyamuni oder Platon sind nicht ihre Gedanken vergangen, mit denen wir uns heute noch befasssen.

Oder wie es in dem schönen Film "Queenie in Love" (von Amos Kollek) über Marilyn Monroe heißt:

Sie: She is immortal.
Er: She is dead.
Sie (flüsternd): But we're talking about her!
Agnete (66)
(20.02.22, 18:58)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 20.02.22 um 23:53:
Das Sterben in der Klinik (und so erleben es wohl die meisten) hat mit einem natürlichen Tod nicht mehr viel zu tun ... und erscheint mir auch ganz und gar nicht wünschenswert. Dahinter steht die Absage an das 'Ideal', das Leben so weit wie irgend möglich zu verlängern.

Der Gnadentod (wenn es denn einer ist, das hängt ja vom Wunsch des Betreffenden ab) ist in Deutschland durch die Nazizeit ebenso diskreditiert wie der an sich positive Begriff der Euthanasie. Da ist nichts mehr zu machen, obwohl die Nazis ja einen Dreck um den Wunsch der Betroffenen gegeben haben.

Über den Glauben an die Auferstehung habe ich kürzlich eine Statistik in der Zeitung gelesen: 15 % der Deutschen glauben noch daran, hieß es. Und da war ich mir nicht sicher, ob da nicht die Moslems, die immerhin an ein Leben nach dem Tode glauben, mitgezählt waren.

Fürs Christentum erschien mir diese Zahl vernichtend.

 EkkehartMittelberg (20.02.22, 20:08)
Hallo Graeculus, darin unterscheide ich mich überhaupt nicht von den Meisten: Ich möchte schmerzfrei sterben und wenn möglich bewusst und so, dass ich für meine Liebsten, die mich begleiten, noch ein tröstliches Wort sprechen kann. Aber der Mensch denkt, das Schicksal lenkt.
Angeregt durch deinen Text werde ich den Dialog eines Sterbenden mit dem Tode, den ich hier schon ein mal veröffentlicht habe, neu einstellen.

 Graeculus meinte dazu am 20.02.22 um 23:47:
Diesem Wunsch kann ich mich anschließen, mit einem Tod im Schlaf mich immerhin anfreunden.

Auf den Dialog bin ich gespannt!

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:52:
Inzwischen ist er ja erschienen. Danke.

 Terminator (21.02.22, 05:11)
Das 2:0

das Recht auf Leben bedeute keine Pflicht zu leben
Das wird von 99% der Diskutanten über Leben und Tod regelmäßig vermengt. "Du hast das Recht auf Leben, also hast du kein Recht auf Suizid". Pseudologische Schlüsse, um das Tabu zu stützen.

 FrankReich meinte dazu am 21.02.22 um 06:37:
Das halte ich für reines Psychogequatsche, natürlich wird so etwas gerne suggeriert, doch wer nimmt sich in dieser Zeit davon schon noch etwas an? Ein Mensch tötet sich höchstens noch selbst, wenn er dazu getrieben wird, das wahre Problem sehe auch ich eher darin, dass sich kaum noch jemand mit dem eigenen Tod auseinandersetzt, weil der Gedanke daran verdrängt wird, bzw. der das Vorstellungsvermögen übersteigt, so dass selbst der natürliche Tod keine Option mehr darstellt und wenn irgend so ein nikotinbesessener Schwachkopf mit Blutkrebs Dir das Leben zur Hölle macht, weil Du ihn freundlich darauf hingewiesen hast, dass er seine 50 : 50 Überlebenschance vergessen kann, wenn er das Rauchen nicht drangibt, weißt Du, was die Stunde geschlagen hat, der Mensch lebt zwar nicht ewig, aber wenigstens verleiht Red Bull Flügel. 🥳

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 16:33:
Was ist reines Psychogequatsche? Terminators Meinung oder das, wogegen er sich wendet?

Ein Mensch tötet sich höchstens noch selbst, wenn er dazu getrieben wird ...
Oft, aber nicht immer - es sei denn, Du meinst damit auch einen inneren Antrieb.

Den Sokrates z.B. trieb seine ganze Umgebung dazu, die Gelegenheit zur Flucht zu nützen - Athen wäre froh gewesen, auf diese Weise um das peinliche Todesurteil herumzukommen.
Sokrates aber, 70 Jahre alt, wollte sterben und bat seine Freunde nur darum, dem Gott der Heilkunst zum Dank für seinen Tod einen Hahn zu opfern.

Aber vielleicht ist es "Philosophengequatsche", beim Suizid immer gleich an den Weisen zu denken, der die Bilanz seines Lebens gezogen hat.

 FrankReich meinte dazu am 21.02.22 um 19:20:
1. Das Zitat "Du hast das Recht auf Leben, also ..."

2. Der innere Antrieb dazu kommt vorwiegend ebenfalls von außen, Ausnahmen gibt es natürlich schon noch.

3. Selbstmord auf Raten gibt es allerdings auch, nur ziehen die zumeist, wie z. B. Raucher, ihre Umgebung in Mitleidenschaft.

4. Ich schweife zwar ab, aber bzgl. Sokrates fällt mir gerade die (angebliche?) Gewohnheit von Hofhaustieren ein, sich zum Sterben einen Ort außerhalb des Geländes zu suchen.

5. War Paul Celan weise? Vielleicht, zumindest bin ich der Ansicht, dass sich nicht die Leute das Leben nehmen sollten, die noch eine Menge positives bewirken könnten, selbst wenn es "nur" darauf hinaus läuft, andere zum Nachdenken über ihr armseliges Dasein anzuregen, aber wahrscheinlich liegt der Grund für einen Weisen, sich umzubringen, sogar in der Erkenntnis, dass es sinnlos ist, gegen eine Mauer aus Schwachsinn anzudenken.
👋😉

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 23:58:
ad 1.: Dann muß ich Dir widersprechen. Mein Recht ist mein Recht, und wenn ich nicht eine Recht auf meinen eigenen Körper habe (inkl. ihn nicht mehr zu wollen), worauf soll man dann noch ein Recht haben?
(Ist übrigens das gleiche Problem wie beim Schwangerschaftsabbruch.)

ad 2.: Vermutlich haben wir da unterschiedliche Fälle vor Augen. Mein Wille ist nicht von außen bestimmt.
Und ich wehre mich geradezu leidenschaftlich gegen jeden Versuch, ihn mir in paternalistischer Weise umdeuten zu lassen.

ad 3.: Klar, Selbstmord auf Raten gibt es auch. Falls Freud mit seiner Annahme eines Todestriebes recht hat, dürfte er gar nicht selten sein.

ad 4.: Mir ist nicht klar, wie Du von Sokrates darauf kommst. Unsere Katzen sind zum Sterben zu Hause geblieben, obwohl sie rauskonnten.

ad 5.: Es steht Dir völlig frei, zum Suizid anderer eine Meinung zu haben ("schade, er hätte noch soviel Positives leisten können!"); aber nichts berechtigt Dich oder irgendjemanden, jemanden daran zu hindern, seine Entscheidung zu treffen.

 FrankReich meinte dazu am 22.02.22 um 00:54:
Wieso widersprichst Du mir bei meinem 1. Punkt?  Ich sage damit doch nur, dass ich dieses "Zitat" für Psychogequatsche halte. 🤔

zu 2. Dein Wille ist nicht von außen bestimmt? Entweder bist Du ein Traumtänzer oder verfügst über eine ganz außerordentliche Portion von Arroganz, sorry, ich behaupte von mir zwar, über einen recht starken Willen zu verfügen, manipulierbar ist der aber dennoch.

zu 3. Ja, okay.

zu 4. Ich frage mich, warum Sokrates seinen Tod unbedingt in der Öffentlichkeit, bzw. auf diese Art "ausleben" wollte. 🤔

zu 5. Na ja, ich formuliere es einmal so: Wenn ich tatenlos dabei zusehe, bzw. es zulasse,  dass sich jemand das Leben nimmt, wird mir das vor dem Gesetz als unterlassene Hilfeleistung ausgelegt, aber wenn mir nichts an ihm als Menschen liegt, ist es mir eigentlich pupsegal, was er mit seinem Leben anstellt, solange er dabei dem meinen nicht in die Quere kommt.

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 22.02.22 um 18:31:
Gut, 1. sehe ich anders.

2.: Mein Wille ist durch Informationen von außen beeinflußt (in diesem Falle sind das die Klassiker zum Thema wie David Hume etc.), aber bestimmt? Nein. Falls es überhaupt eine freie Wahl gibt, dann habe ich sie hier. Mit meiner Frau habe ich ausführlich über meine Einstellung gesprochen; sie akzeptiert sie. Und von religiösen Bedenken bin ich frei.

Freunde! Ich stehe jetzo vor der Decke im Begriff sie aufzuziehen, um zu sehen ob es hinter derselben ruhiger sein wird als hier. Es ist dieses keine Anwandlung einer tollen Verzweiflung, ich kenne die Kette meiner Tage aus den wenigen Gliedern die ich gelebt habe zu wohl. Ich bin müde weiter zu gehen, hier will ich ganz ersterben oder doch wenigstens über Nacht bleiben. Hier nimm meinen Stoff wieder, Natur, knete ihn in die Masse der Wesen wieder ein, mache einen Busch, eine Wolke, alles was du willst aus mir, auch einen Menschen, aber mich nicht mehr. Dank sei es der Philosophie, daß mich jetzo keine fromme Possen in dem Zug meiner Gedanken stören. Genug, ich denke, ich fürchte nichts, gut, also weg mit dem Vorhang! --
(G. Chr. Lichtenberg)


Wenn es denn soweit ist ... Vorläufig lebe ich noch ganz gerne, kann aber auch noch das, was ich gerne tue.

4. Immer wieder zitiert Sokrates den Spruch: "Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun."
Vielleicht ist das die Erklärung, denn erleiden konnte er den Tod, wiewohl gewünscht, nur im Gefängnis.

5.: Strafbar ist diese unterlassene 'Hilfe'leistung in Deutschland nur für Ärzte. Ich glaube, die heißen in diesem Zusammenhang "Gewährleister", aber da kann ich mich irren. Da wir keine Ärzte sind, können wir die Leute ihren Weg gehen lassen. Signalisiert mir jemand die Bitte um Hilfe, liegt für mich der Fall anders.

 FrankReich meinte dazu am 23.02.22 um 10:27:
zu 1. Okay, dann bist Du also der Meinung, dass das Recht auf Leben nicht das Recht beinhaltet, es sich zu nehmen und ich meine halt, dass dies im eigenen Ermessen liegt, außerdem ist das eigentlich ja auch unmöglich, deshalb ist die Aussage "Du hast das Recht auf Leben, deshalb hast Du auch keins auf Suizid" für mich reines Psychogequatsche.

zu 2. Bewusstsein ist auf die eine oder andere Weise stets fremdbestimmt, bei Tieren wird das als Prägung bezeichnet.

zu 4. Nun gut, mir hätte Sokrates natürlich auch Unrecht angetan, wenn er sich das Leben genommen hätte, denn er hätte für die Menschheit bestimmt noch einiges erreichen können, aber offenbar wollte er ja eh sterben, selbstverständlich lasse auch ich Reisende ziehen, traurig ist es dennoch.

zu 5. Ich finde bspw. einen weggetretenen Angehörigen auf samt Abschiedsbrief, in dem er seinen Suizid durch eine Überdosis Schlaftabletten beschreibt und lasse ihn sterben. Icehockey?

Ciao, Frank
Clara (37) meinte dazu am 23.02.22 um 10:39:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 FrankReich meinte dazu am 23.02.22 um 11:14:
Danke für den Zusatz, Clara, ich denke, dass es sich dabei um ein Schlüsselerlebnis zur Wertschätzung der eigenen Person gehandelt hat, ich habe die Situation jedoch aus rein gesetzlicher Perspektive betrachtet, denn wer einen Menschen vorsätzlich sterben lässt, begeht eine Straftat.

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:02:
ad 1.: Hatte ich offensichtlich immer noch nicht, habe ich aber hoffentlich jetzt verstanden. Andererseits hatte ich angenommen, es sei klar geworden, daß ich die Ansicht des BVerfG teile.

ad 2.: Mein Bewußtsein ist beeinflußt worden und wird noch heute beeinflußt von anderen Menschen - aber nicht in der Weise, daß ich mich davon bestimmen lasse. Kennst Du vielleicht von Deinen Kindern, falls Du Vater bist. Eltern beeinflussen ihre Kinder, doch was dabei herauskommt, ist nicht immer bzw. selten das, was die Eltern dabei beabsichtigt hatten. Das gilt auch für andere Einflüsse: So bin ich z.B. katholisch beeinflußt, aber alles andere als katholisch denkend.
Falls Du weitergehen und behaupten möchtest, es gebe überhaupt keine Denk- und Willensfreiheit, vielmehr sei alles kausal determiniert, kann man darüber diskutieren, obwohl das hier vermutlich zu weit geht. Jedenfalls: Wenn alles determiniert ist, dann ist Deine Verteidigung des Determinismus ebenso determiniert wie meine Ablehnung. Was auch immer geschieht, was auch immer wir tun ...
Eine moralische Verantwortung ergibt sich daraus nicht, denn falls ich sie ablehne, ist ja auch das determiniert.

ad 4.: Sokrates war 70 Jahre alt und hatte sich in Athen denkbar unbeliebt gemacht (aus verschiedenen Gründen). Was hätte da noch kommen sollen? Und wer hätte ihn dazu verpflichten sollen? Er hatte seinen Samen gelegt, mehr als die meisten anderen Menschen.

ad 5.: Wenn es sich um einen Angehörigen handelt, gehe ich davon aus, daß ich etwas von dem Kontext kenne. Davon wäre meine Reaktion abhängig. Weiterhin bin ich der Ansicht, daß "unterlassene Hilfeleistung" im Falle eines Suizids nicht greift - nur für Ärzte. Wie kommst Du eigentlich auf Deine anderslautende Ansicht?

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:08:
An Clara: Andererseits kenne ich Personen mit Suizidversuch, die gerettet worden sind und darüber alles andere als glücklich bzw. dankbar waren.
Man kann seinen Standpunkt ändern - in diese oder jene Richtung.
Das ist wie beim Heiraten: Man tut es, erwartet etwas dabei, und manchmal ändert man seine Ansicht, wenn "es zu spät ist".
Dafür ist man selber verantwortlich!!! (Und das schreibe ich bewußt mit drei Ausrufungszeichen.)
Eigenes Recht, eigene Entscheidungsfreiheit impliziert eigene Verantwortung.

Stark beeindruckt hat mich die folgende Aussage eines Psychiaters: "Der ideale Abschiedsbrief ist 14 Tage alt." Will sagen: Man vermindert die Chance auf eine falsche Entscheidung, wenn man sie sich 14 Tage durch den Kopf gehen läßt, bevor man sie umsetzt.

Für Sterbehilfe sind die Fristen ja sogar noch länger, und Arztgespräche gehören dazu. Alles so in Ordnung.

 Terminator meinte dazu am 24.02.22 um 04:56:
Ich kenne eine Person, der die suizidbezogene Schuldgefühlmacherei fast das Leben gekostet hat: mich selbst. Ich habe jahrelang nur überleben können, indem ich mir den Suizid als letzten Ausweg erlaubt hatte. Im Bewusstsein, dass ich mich morgen immer noch umbringen kann, war das Leben gerade noch erträglich. Hätte ich mir den Suizid verboten, hätte ich bald keine Kraft mehr zum Leben gehabt, und mich mit 19 oder 22 oder 25 im Bewusstsein, eine schwere Sünde zu begehen, umgebracht.

Und ich kenne jemanden, der seit 15 Jahren tot ist (er starb in meinem jetzigen Alter, mit 39), weil seinem ersten Suizidversuch mit Scham und Vorwürfen begegnet wurde, anstatt ehrlich darüber zu reden, und ihm zu helfen. Da sah er ein, dass er kein Verständnis und keine Hilfe zu erwarten hat, und sein zweiter Suizidversuch war erfolgreich.

 FrankReich meinte dazu am 24.02.22 um 22:50:
@Graeculus
zu 5. § 323 c StGB

 Graeculus meinte dazu am 24.02.22 um 22:57:
Darauf komme ich zurück - aber aus naheliegenden Gründen nicht heute.

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:06:
So. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, den § 323c StGB nachzuschauen, und zwar in dem (m.W. maßgeblichen) Kommentar von Thomas Fischer.
Der § lautet:

Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Gemeine Gefahr und Not scheiden wir beim Selbsttötungsversuch aus; es kommt also darauf an, was unter Unglücksfällen zu verstehen ist.

Da hilft uns der Kommentar weiter:

2a) Ereignisse, die vom Betroffenen selbst absichtlich und frei verantwortlich herbeigeführt wurden, sind keine Unglücksfälle; vgl. aber unten. [...]
2b) Nach BGH [jetzt folgen mehrere Urteile] ist auch jede durch einen Selbsttötungsversuch verursachte Gefahrenlage ein Unglücksfall (...). Auch hier bedarf aber die Frage der Zumutbarkeit einer Abwendungshandlung besonderer Prüfung (vgl. BGH ...). In Fällen freiverantwortlichen Suizidversuchs zwingt § 323c in keinem Fall zu Hilfeleistungen gegen den erklärten Willen des Betroffenen [es folgen Hinweise, u.a. auf vor § 211: Selbsttötung ist straflos.]; da aktive Teilnahme am Suizid straflos ist, kann § 323c für die passive Nicht-Verhinderung nicht zum gegenteiligen Ergebnis führen (...).
Das ist doch sehr deutlich, oder? Es entspricht nicht nur meinem Kenntnisstand, sondern auch meinem Verständnis von Logik. Wenn Selbsttötung und aktive Teilnahme daran nicht strafbar sind, dann kann ... s.o.


Den Sonderfall bei Ärzten habe ich nicht nachgeschaut, weil niemand von uns Arzt ist.

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:37:
An Terminator:

Was Du über Dich schreibst, ist gut nachvollziehbar:

Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich schon längst getötet.
(E. M. Cioran: Syllogismen der Bitterkeit. Frankfurt/Main 1980, S. 43)


Daß wir es können, gibt uns die Freiheit und die Kraft, es noch ein wenig durchzuhalten. Wäre die Sache ausweglos, wäre sie auch hoffnungslos.
Das ist auch mir schon so gegangen.

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:54:
Die Deutung des Begriffs "Unglücksfälle" ist zentral!

 Terminator meinte dazu am 26.02.22 um 12:54:
Ciorans "Syllogismen der Bitterkeit" habe ich im November 2005 gelesen, und in dem zitierten Aphorismus mich selbst wiedererkannt. Cioran war 2005/06 mein Lieblingsphilosoph.

 Graeculus meinte dazu am 26.02.22 um 22:38:
Ich dachte mir, daß Du diesen Aphorismus kennst und daß er eine Bedeutung für Dich hat.
Clara (37)
(21.02.22, 06:57)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 16:35:
Anders als bei den Nationalsozialisten mit ihrer pervertierten "Euthanasie" ist der Wunsch des Betroffenen das einzige Kriterium, das ich gelten lasse (übrigens auch bei den anderen Tieren, sofern man deren Wunsch ermitteln kann).

Aber nicht alle sehen das so, insbesondere nicht christliche Stellen, die traditionell einem paternalistischen Menschenbild zuneigen: Wir wissen (besser), was gut für dich ist!
Clara (37) meinte dazu am 21.02.22 um 17:01:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 23:48:
Ich bin sogar der Ansicht, daß man das den Tieren recht gut anmerkt, ob sie weiterleben wollen, d.h. ob ihr Lebenswille erloschen ist.

Ganz so traurig steht es mit den Patientenverfügungen nicht, obwohl es zweifellos schwierig ist und manchmal des Rechtswege bedarf. Schlecht ist es, (a) in einem kirchlichen Krankenhaus zu landen und/oder (b) Privatpatient zu sein.

Sterbehilfe bekommt man im Hospiz nicht, oder?
Clara (37) meinte dazu am 22.02.22 um 05:32:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 22.02.22 um 18:36:
Ob man im Hospiz passiver Sterbehilfe bekommt, weiß ich nicht. Da müßte man Stelzie fragen. Aktive Sterbehilfe jedenfalls nicht.

Mit der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) hatte ich im Verlaufe meines Lebens mehrfach durch persönliche Bekanntschaften zu tun; vor über 30 Jahren war ich mit dem damaligen Vizepräsidenten befreundet (ohne selbst jemals Mitglied zu sein). Der hat dann von dem Angebot seines eigenen Vereins auch Gebrauch gemacht, als er aussichtlos an einer extrem schmerzhaften Krebserkrankung litt. Ich habe ihm damals eine Grabrede gehalten und lasse bis heute keinen Schatten auf seinen Charakter fallen.
Clara (37) meinte dazu am 22.02.22 um 19:32:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 22.02.22 um 23:37:
Meintest Du die DGHS?

Der damalige Vorsitzende (mein Freund war ja nur Vize) ist übrigens ins Gefängnis gekommen, weil er die Einnahmen durch die 'Gebühren' fürs Gift nicht versteuert hatte. Daß man ihm auf diese Weise beikommen wollte, zeigt, daß die Sterbehilfe schon damals nicht illegal war.
Ich habe seinerzeit an Al Capone gedacht, der ja ebenfalls wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden ist.
Damals hatte die DGHS übrigens mehr Mitglieder als die FDP ... und war sehr stolz darauf.

Mit einem späteren Vorsitzenden, Prof. Birnbacher, war ich zeitweilig durch eine philosophische Gesellschaft bekannt.
Inzwischen gibt es allerdings einen neuen Vorsitzenden.

Mitglied war ich, wie gesagt, nie.
Clara (37) meinte dazu am 23.02.22 um 05:20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:12:
Zu dieser Ansicht neige auch ich: Wer wirklich aus dem Leben scheiden will, findet auch Mittel dazu. Einige von ihnen sind nicht ganz sicher, andere durchaus schmerzhaft.
Dafür braucht's nicht unbedingt die DGHS, denn wer die kurzen, wenn auch heftigen Schmerzen einer bestimmten Todesart nicht in Kauf nehmen will, an dessen Sterbewunsch zweigfle ich ein wenig.

Eine spezielle 'Kategorie' sind die Leute, die sich vor einen Zug werfen. Ein ziemlich sicherer Tod, auch wenn man anschließend nicht mehr gut aussieht. Aber welche Folgen für andere Menschen! Das schreibe ich als regelmäßiger Bahnnutzer.

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:52:
Noch an Clara: Ja, damals blieb offenbar einiges an Gewinn bei dem Verein (oder vielmehr bei dessen Präsident) hängen. Über den spricht man heute nicht mehr gerne, und weder im Wikipedia-Artikel zur DGHS noch auf der Webseite des Vereins wird sein Name überhaupt genannt; es war Hans-Henning Atrott.

https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Henning_Atrott

Zwei Jahre Haft auf Bewährung wegen Steuerhinterziehung.

Heute liegt der Schwerpunkt des Vereins anscheinend auf etwas anderem als der Beschaffung von Gift zur Selbsttötung.

 Terminator (21.02.22, 10:58)
Und zum Dritten: Der Gnadentod. Sterbehilfe für Tiere ist längst geregelt, weil wir uns ihre Qualen nicht ansehen können. Die Qualen eines dahinsiechenden Hundes sind für uns unzumutbar, darum müssen (!) wir ihn einschläfern (!!) lassen. Die Qualen von menschlichen Angehörigen sind aber sehr wohl zumutbar: die Agonie eines Alten, eines kranken Kindes, eines nicht mehr leben wollenden Fastverunglückten, der nur noch die Aussicht hat, dahinzuvegetieren.

Tatsächlich wiegt die Gefahr des Missbrauchs der Sterbehilfe so schwer? Oder schaltet sich hier vielmehr jede rationale Abwägung aus, und es wird nur noch mit Gefühlen gedacht?
Clara (37) meinte dazu am 21.02.22 um 11:03:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 16:40:
Menschen haben den Vorzug, ihre Wünsche relativ eindeutig (sprachlich) artikulieren zu können.
Und falls jemand Zweifel daran hat, ob der Wunsch in dieser Lage eindeutig und ernsthaft ist, gibt es die Möglichkeit einer Patientenverfügung, die man sogar jederzeit widerrufen kann.

Wer von Euch hat eine Patientenverfügung verfaßt?

Ob die Ärzte sich daran halten (was sie eigentlich müßten), ist nach Auskunft meiner Frau zweifelhaft.
Deshalb empfiehlt sich zusätzlich eine Vorsorgevollmacht für einen Menschen des Vertrauens. Der hat dann das Recht, sich gegenüber den Ärzte dafür einzusetzen, daß sie sich an die Patientenverfügung halten.

 FrankReich meinte dazu am 21.02.22 um 19:34:
Nun, Komapatienten können nicht befragt werden, wie es um ihren Lebenswillen bestellt ist, im Falle einer Patientenverfügung also auch nicht, wie sie denn momentan dazu stehen. 🤔

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 23:51:
Nein, die kann man nicht befragen. Dafür ist die Patientenverfügung ja da. Wer seinen Willen noch artikulieren kann, braucht sowas nicht.
Daß man - hypothetisch, hypothetisch! - im allerletzten Augenblick seines Bewußtseins noch seinen Willen ändert, das aber nicht mehr ausdrücken kann, mag vorkommen, ist dann aber das eigene Risiko, wie ich meine. Kein Arzt sollte sich auf diese vage Möglichkeit berufen dürfen, wenn eine klare Patientenverfügung vorliegt.

 FrankReich meinte dazu am 22.02.22 um 00:11:
Wenn mir der Strom abgestellt werden sollte, weil ich nicht mehr in der Lage bin, mich zu artikulieren und vorher eine Patientenverfügung unterschrieben hätte, die genau das gewährleistet, würde ich nicht nur ins Gras, sondern mir auch ganz gehörig in den Arsch beißen, da erhält der eh schon verballhornte Filmtitel "Dilemma des Schweigens" noch einmal eine ganz besondere Qualität. 👋🥳🤙

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 22.02.22 um 18:40:
Hier verstehe ich Dich nicht recht. Wenn Du heute schon weißt bzw. ahnst, daß Du eine solche Patientenverfügung bereuen würdest, warum solltest Du sie dann aufsetzen?
Aber möglicherweise meinst Du das anders.
(Den Film kenne ich nicht.)

Ich bin mir in dieser Angelegenheit so sicher, wie man nur sicher sein kann - d.h. nicht absolut (vielleicht bekenne ich mich im Sterben zum Christentum und Bluebird fällt vom Glauben ab?), aber nach menschlichem Ermessen. Und was anders soll man seinen Verfügungen zugrunde legen?

 FrankReich meinte dazu am 23.02.22 um 10:58:
Okay, wenn jemandem der Strom abgestellt wird, der nicht mehr in der Lage ist, sich zu artikulieren, aber alles, was um ihn herum abgeht, noch registriert, allerdings eine Patientenverfügung unterschrieben hat, die genau das gewährleistet, weil er mit dieser Situation nicht gerechnet hat, bisse er sich sicher (mental) in den Arsch, bevor er (physisch) ins Gras bisse (metaphorisch).
Der Film, auf den ich mich bezog, ist "Das Schweigen der Lämmer", bzw. auf die Verballhornung, als Wortspieler gehe ich leider immer davon aus, dass die allgemein bekannt sind, wie zum Bsp. "Dauerstress für Dire Straits", "Ganz in Rosa für Guns' n Roses" oder "Senneschiss für Genesis", mit "Dilemma des Schweigens" wollte ich lediglich bekräftigen, dass es Situationen gibt, die nun einmal nicht von jedem vorhersehbar sind und in denen er keinen Einfluss mehr auf seine früheren Entscheidungen nehmen kann.

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 23.02.22 um 23:19:
Nein, solche Wortspiele erschließen sich mir nicht immer bzw. zu selten.

Wenn man wie bei ALS (Amyotropher Lateralsklerose) völlig artikulationsfähig ist und dennoch - entgegen der eigenen Patietenverfügung - weiterleben möchte (sowas könnte mir echt passieren), dann hätte man tatsächlich Pech gehabt. Ich hoffe, daß ich das mit Humor nähme. Jedenfalls ist sowas das Risiko einer eigenen Entscheidung! Man kann nicht erwarten, daß es ernsthaft soetwas wie eine Versicherung gegen die Folgen eigener Entscheidungen gibt.
"Im ersten seid ihr frei, im zweiten Knechte", das sollte man verinnerlichen, denn das gehört zum Leben. Und manchmal auch zum Sterben. Zumal es für jede Entscheidung gilt, auch für die gegen den Suizid.
Man kann sich ja mühelos Fälle ausdenken, in denen jemand es bereut, nicht rechtzeitig Suizid begangen zu haben.
Clara (37) meinte dazu am 24.02.22 um 05:37:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 24.02.22 um 22:57:
Darauf komme ich zurück - aber aus naheliegenden Gründen nicht heute.

 FrankReich meinte dazu am 25.02.22 um 00:04:
@Clara
Das ist keine Frage von richtig oder falsch, sondern eine gesetzliche Anforderung, Du bist zur Hilfeleistung verpflichtet, lässt sich die Unterlassung nachweisen, machst Du Dich nach § 323 c StGB strafbar.

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 25.02.22 um 17:14:
Dieser Hinweis von Ralf_Renkking auf § 323c StGB ist - s.o. - falsch.
Wenn Juristen von einem "freiverantwortlichen Suizidversuch" sprechen, dann kann ich damit etwas anfangen: Unter welchen Umständen erfolgt dieser Suizidversuch? Was von dem Betreffenden ruhig erwogen (nicht in einer momentanen Gefühlsaufwallung oder gar unter Drogeneinfluß) und dann entschieden worden ist, das habe ich und hat m.E. jeder zu respektieren.

Es ist unerläßlich, nicht nur den § selbst, sondern auch seine Deutung und Auslegung durch höchstrichterliche Entscheidungen sowie die communis opinio von Juristen zur Kenntnis zu nehmen, d.h. in den Kommentar des StGB zu schauen.

 Graeculus meinte dazu am 26.02.22 um 22:40:
Ich hoffe, daß diese Richtigstellung angekommen ist, zumal sie eine wichtige Frage betrifft.

Wenn man auf einen offensichtlich unter Alkoholeinfluß stehenden Menschen trifft, der im Begriff ist, über ein Brückengeländer in die Tiefe zu springen, ist das ein andere Situation.

 Quoth (21.02.22, 11:20)
Ein guter, pragmatischer Essay, lieber Graeculus, gut ergänzt durch die Erfahrungen von DieStelzie in ihrem Kommentar. Über Auferstehungsglauben und Jenseitsvorstellungen (z.B. Hades) solltest Du vielleicht einen weiteren Essay verfassen. Sterben und Tod sind ja zweierlei: eigenes Sterben ist erlebbar, eigener Tod nicht, deshalb lässt sich über den Tod nicht pragmatisch schreiben, sondern nur spekulativ. Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 21.02.22 um 16:43:
Ja, Stelzies Ergänzung - aus einer Praxis, die ich nicht habe - ist sehr gut!
Über Jenseitsvorstellungen habe ich bereits geschrieben, allerdings in meiner früheren Existenz bei kV, und das ist dann bei meiner damaligen Abmeldung gelöscht worden. Ich muß mal überlegen, ob ich das wieder hervorkrame; bisher habe ich davon abgesehen, alte Texte wiederzuverwerten.

Danke!
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram