Es war einmal ein kleines Märchen. Es lebte in einem alten, dicken Buch.
Dem kleinen Märchen war es jedoch eines Tages viel zu langweilig dort. Es hatte die Nase gestrichen voll vom Feenstaub, von bösen Wölfen und ungerechten Königen.
Und erst die vielen hochnäsigen eingebildeten Prinzessinnen und die dummen Prinzen, die immer wieder auf ihre Schönheit reinfielen. Von den gemeinen Hexen
hatte das Märchen erst recht genug!
Eines Tages beschloss es auszuziehen um das wahre Leben zu entdecken. Das Märchen hüpfte entschlossen aus dem großen, dicken Buch und landete geradewegs auf dem Sitz eines Eilzuges. Überrascht schaute das kleine Märchen an sich hinunter. Es hatte Beine bekommen und Arme, mit richtigen Händen daran. Ein gelbes Kleidchen hatte es an. Etwas verwirrt begaffte es sein Spiegelbild im Fenster.
„Oh, was habe ich doch für eine nette kleine Stupsnase. Ohren habe ich auch und was für große. Ach und meine Haare sind gelockt und so schön blond. Genau so habe ich mir das vorgestellt!“
Als sich das Märchen endlich von seinem Spiegelbild los reißen konnte bemerkte es neben sich auf dem Sitz einen graubärtigen Mann. Er hielt ein altes, dickes Märchenbuch in den Händen und beäugte verwundert und mit offenem Mund das kleine Märchen.
„Guten Tag. Ich habe sie gar nicht bemerkt, „entschuldigte es sich und hielt dem Mann seine Hand hin. „Gestatten sie, dass ich mich vorstelle, ich bin ein Märchen und komme direkt aus diesem Buch da!“
Der alte Mann hob verwundert seine Augenbrauen. Er schaute kurz auf um dann wieder in seinem dicken Märchenbuch zu blättern und runzelte die Stirn. „Das gibt es doch nicht! Nein, das kann es doch gar nicht geben! Warum zum Teufel sind hier plötzlich die Seiten leer. Dieses Märchen ist einfach verschwunden!
So geht das doch nicht. Nein, das kann doch gar nicht gehen!“
Er nahm seine Brille ab und putzte diese. Aber das half auch nichts. Das Märchen, das er gerade angefangen hatte zu lesen, war einfach verschwunden.
Erst jetzt schaute er das kleine Mädchen genauer an. Es saß vergnügt auf dem Sitz und baumelte mit den Beinchen auf und ab.
„Was hast du gerade gesagt?“
„Ich bin das Märchen da aus ihrem Buch. Mir war langweilig und ich dachte mir ich ziehe einmal aus um die wahre Welt zu entdecken!“ Das Märchen hatte bis jetzt aber nur den Abfallbehälter entdeckt, der direkt unter dem Fenster des Zuges hing. Neugierig schaute es hinein.
„Erzähl mir keine Märchen, Kind!“ ärgerte sich der alte Mann, der nun wieder damit beschäftigt war in seinem Buch nach dem Märchen zu suchen. Irgendwie, fand das Märchen, sah er dem Räuber Hotzenplotz sehr ähnlich.
„Niemals! Ich werde niemals mehr Märchen erzählen! Und sagen sie nicht Kind zu mir, ich bin nämlich schon fast 165 Jahre alt.“ Das Märchen rümpfte die Nase, denn aus dem Abfalleimer kam ihm ein schimmeliger Geruch entgegen.
„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Die heutige Jugend wird auch immer frecher!“ verärgert klappte der Mann das Buch zu und steckte es in seine Reisetasche.
„Auf den Arm nehmen? Nein, sie sind mir zu schwer!“ lachte das Märchen und sprang vom Sitz.
„Wohin fährt denn dieser Zug?“ wollte es noch wissen.
„Nach Bremen. Die nächste Station ist Bremen.“ Hastig zog der Alte seinen Mantel an und verschwand grußlos mit samt der Reisetasche aus dem Abteil.
„Oh, ausgerechnet nach Bremen,“ murmelte das Märchen vor sich hin, „da wo die Stadtmusikanten her kommen, die immer so viel Krach machen. Nein, ich werde lieber noch ein bisschen im Zug bleiben. Mal sehen was im nächsten Abteil so los ist.“
So hüpfte das Märchen vergnügt und voller Entdeckerdrang durch den Gang des Zuges. „Nächster Halt Bremen!“ hörte es eine monotone Stimme aus dem Lautsprecher erklingen. Der Zug bremste. Das Märchen verlor das Gleichgewicht
und flog geradewegs in eine Gruppe Jugendlicher, die am Fenster vor einem Abteil lehnten.
„Hey, pass doch auf, blöde Kuh!“ schimpfte einer von ihnen.
„Ich bin keine blöde Kuh! Ich bin ein Märchen!“ schrie das Märchen trotzig und strich sich über den Ellenbogen.
„Habt ihr das gehört? Die Kleine spinnt ja total!“ lachte der Typ, der, wie das Märchen so bei sich dachte, wie ein böser Wolf aus eines der Märchen aussah. Er hatte schwarzes Haar, das wild kreuz und quer aus seinem Kopf wuchs. Außerdem hatte er Mundgeruch.
Das Märchen hielt sich die Nase zu und wollte gerade weiter gehen. Doch irgendwer
schubste es von hinten und es stürzte auf den Boden.
Als es sich wieder aufgerappelt hatte stand es vor einem Mann, der böse drein schaute. Um seine linke Schulter hing eine Tasche, in der rechten Hand hielt er ein komisches Gerät, das wie eine Zange aussah. Das Märchen fand, der Mann sah aus wie der böse Zauberer aus dem Märchenbuch. Er hatte die gleichen schlechten Zähne und auch so eine große Hakennase.
„Die Fahrkarten bitte!“ und die gleiche furchterregende tiefe Stimme.
„Bitte?“ fragte das Märchen ängstlich.
„Deine Fahrkarte möchte ich sehen!“ wiederholte der Zauberer schroff.
„Ich habe so etwas nicht. Ich habe auch kein Geld. Zeit hatte ich auch keine, denn ich bin doch so schnell aus dem großen alten Märchenbuch gesprungen.“
druckste das Märchen kleinlaut herum.
„Aber sonst geht’s Dir gut?“ schnaufte der Schaffner, der dem Zauberer immer ähnlicher wurde.
„Bestens, danke!“
„Erzähl mir keine Lügenmärchen. Wo sind denn deine Eltern, du wirst hier ja wohl nicht alleine im Zug umher reisen.!“ der Schaffner fuchtelte mit der seltsamen Zange umher, als ob diese ein Zauberstab wäre.
„Ich habe keine Eltern, beziehungsweise sind diese schon lange tot. Die Gebrüder Grimm, kennen sie sie? Im Übrigen bin ich schon 165 Jahre alt und kann sehr wohl alleine umher reisen!“ versuchte das Märchen zu erklären.
„Jetzt langt’s!“ der Zauberer, oder Schaffner wurde ungehalten „Für wie blöd hältst du mich eigentlich. 165 Jahre alt, ein Märchen. Ja und was für ein Märchen, Fräulein Grimm, ich zieh dir gleich die Ohren lang!“
„Die sind doch schon so lang!“ das Märchen zeigte dem Schaffner seine großen Ohren.
„Genug jetzt, mit den Blödeleien! Du setzt dich da in dieses Abteil und wartest bis ich wieder komme. Beim nächsten Halt bringe ich dich zur Polizei. Verstanden?“
„Aber...“ wollte das Märchen noch sagen, doch der böse Zauberer drückte sie ins Abteil hinein, verschloss die Türe und verschwand.
„Ja, super!“ stöhnte das Märchen, lies sich in den Sitz fallen und starrte zum Fenster hinaus, wo Bäume, Straßen und Felder vorbei rannten.
Es wollte gerade einschlafen als es ein Geräusch an der Tür des Abteils vernahm.
Es war ein kleiner Junge der seine Nase an die Scheibe drückte und lustige Grimassen dabei machte.
Das Märchen musste kichern.
„Mach doch mal die Türe auf und komm zu mir herein, mir ist nämlich langweilig!“
Der Junge lies sich das nicht zweimal sagen, öffnete die Türe des Abteils und setzte sich neben das Märchen. „Zug fahren ist total langweilig, finde ich!“
„So? Warum denn?“ fragte das Märchen interessiert.
„Weil das immer so lang dauert. Die Leute entweder nur Zeitung lesen oder sich über komische Dinge unterhalten und man nicht laut sein darf. In den Gängen kann man auch nicht herum rennen. Man könnte so schön auf den Sitzen herum springen.
Aber auch das darf man nicht. Hier ist so gut wie alles verboten!“
Das Märchen beobachtete, wie der Junge seine Schuhe auszog, auf den Sitz sprang, um darauf auf und ab zu hüpfen.
„Ich....mach’s....aber ....trotzdem!“ und er hüpfte und hüpfte als ob er den Weltrekord im Zugabteilsitzpolsterspringwettbewerb gewinnen wollte.
Das Märchen kicherte und hüpfte so gleich auch auf den Sitz. Es brauchte sich die Schuhe nicht auszuziehen, denn es hatte keine an.
Es machte wahnsinnig Spaß.
Nach einer ziemlich langen Weile waren die beiden außer Atem und setzten sich wieder brav auf den Sitz.
„Wohin fährst du eigentlich?“ fragte der Junge nach Luft ringend. Übrigens fand das Märchen, dass der Junge sehr viel Ähnlichkeit mit Hänsel (der Bruder von Gretel) hatte.
„Nächster Halt, zur Polizei. Da will ich zwar gar nicht hin, aber ich habe keine Fahrkarte. Der Zauberer meinte, ich wäre sowieso zu klein um alleine im Zug herum zu reisen. Dabei bin ich doch schon 165 Jahre alt. Der Kauz ist echt blöd, der kapiert nichts.“
„Klar, 165 Jahre. Und warum bist du ganz alleine und hast keine Fahrkarte?“ der Junge schmunzelte.
„Ach, das ist eine blöde Geschichte. Ich bin ja eigentlich ein Märchen.....“
das Märchen erzählte dem Jungen alles haarklein.
Natürlich glaubte der Junge dem Märchen auch nicht, aber er fand die Geschichte toll. Und so ein Märchen kann natürlich auch ganz wunderbar erzählen.
Der Junge hatte eine Idee: „Setz dich doch einfach zu uns ins Abteil. Wir haben eine Gruppenkarte und da könnte auch noch ein Kind mitfahren. Aber, wenn dich meine Eltern fragen, woher du bist, dann erzähl nicht solche Märchen, sonst halten sie dich für verrückt. Lass Dir was anderes einfallen, oder sag einfach die Wahrheit.“
„Ja, aber wenn es doch der Wahrheit entspricht?“ das Märchen ärgerte sich ein wenig. Da sollte es nun Märchen erzählen, obwohl es aus dem Buch gesprungen war um keine Märchen mehr zu hören, geschweige denn zu erzählen?
„Ja, selbst wenn es wahr wäre, würden sie dir das nicht abnehmen!“ lachte der Junge. „Komm mit!“
So ging das Märchen gemeinsam mit dem Jungen in ein anderes Abteil. Darin saßen zwischen jeder Menge Koffer, Gebäckdosen, Jacken und Flaschen, ein Mann und eine Frau. Irgendwie stellte das Märchen bei ihnen eine gewisse Ähnlichkeit zu den Eltern von Hänsel und Gretel fest. Komisch!
Als sie das Abteil betraten erklärte der Junge: „Sie hat keine Fahrkarte und ich dachte mir, sie könnte ja mit uns....in unser Abteil, wir haben doch eine Gruppenfahrkarte.“
„Wieso hat sie keine Fahrkarte? Wo sind ihre Eltern?“ die Eltern schauten das Märchen unverständig an.
„Das ist eine ganz verrückte und lange Geschichte,“ begann das Märchen zu erzählen, „ich bin nämlich ein.....Märchen aus einem alten....... Aua!“
Das Märchen vernahm einen unsanften Stoß in den Rücken. „Erzähl ihnen lieber ein Märchen!“ flüsterte der Junge dem Märchen zu.
„Ich wollte sagen, ich bin ein armes einsames Mädchen aus einem Dorf, weit weg von hier. Meine Eltern sind gestorben. Ich bin so arm, dass ich kein Kämmerchen mehr habe, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und nichts als die Kleider auf dem Leib. Das Stückchen Brot, das ich einst in der Hand hielt, schenkte ich einem armen Mann, der kurz vorm verhungern auf einer Parkbank lag.
Da begegnete mir eine alte Frau, sie jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann. Da schenkte ich ihr meine Mütze. Und als ich noch eine Weile gegangen war, begegnete mir ein Kind das hatte kein Leibchen an und fror. Da gab ich ihm meine Jacke.
Endlich, draußen wurde es bitter kalt, erreichte ich einen Bahnhof. Weil ich so schrecklich fror, stieg ich in das hell beleuchtete und warme Abteil dieses Zuges.
Aber ich hatte keine Fahrkarte. Der Schaffner wurde wütend und sperrte mich ein.
Ich konnte aus meinem Verlies entkommen, denn der Junge befreite mich und nun bin ich hier!“ erzählte das Märchen.
Den Eltern standen vor lauter Mitleid Tränen in den Augen.
„Armes Mädchen!“ seufzte die Mutter.
„Schreckliche Geschichte!“ meinte der Vater. „Natürlich kannst du bei uns bleiben, bis wir aussteigen. Wir könnten dich dann in ein Heim bringen. Dort wird es dir an nichts fehlen.
„Das sind ja tolle Aussichten!“ dachte das Märchen bei sich.
Gelangweilt saß es im Zugabteil, sah durchs Fenster und versuchte die vorbei rennenden Bäume zu zählen.
„Komisch ist es doch da in der wahren Welt. Sie glauben an Märchen. Die Wahrheit scheint hier nicht zu zählen.“
Das Märchen fühlte sich nicht wohl. Es wollte zurück. Zurück in die Märchenwelt.
Aber dazu brauchte es ein Märchenbuch mit leeren Seiten. Der alte Mann war aber längst ausgestiegen, mitsamt dem Buch.
„Sag mal,“ flüsterte das Märchen dem Jungen zu, „hast du nicht ein Märchenbuch mit leeren Seiten zur Hand?“
„Leider nicht,“ flüsterte der Junge zurück, „aber hier habe ich eine aktuelle Tageszeitung, wäre das was?“
Entzückt klatschte das Märchen in die Hände, verabschiedete sich schnell von der wahren Welt und verschwand irgendwo zwischen den Zeilen eines Artikels.
Natürlich blieb es dort nicht. Die Geschichten in der Zeitung fand das Märchen richtig schlimm. Es wollte wieder in ein Märchenbuch.
Die Gelegenheit kam tatsächlich. Der Junge fand ein ganz dickes, altes Märchenbuch und legte die Tageszeitung daneben. Und hast du nicht gesehen hüpfte das Märchen zufrieden auf die erste Seite.
Natürlich ist das ganze ein Märchen.
Aber das ist gut so.
Denn wer glaubt schon an wahre Geschichten in unserer Welt?