Nachkriegsgeschichten. Wir wollen zu Land ausfahren

Bericht zum Thema Reisen

von  EkkehartMittelberg

Die Fresswelle und die Reisewelle erreichten in Deutschland etwa gleichzeitig 1955 ihren Höhepunkt, den die Reisewelle bis heute nicht verlassen hat. Die Reisewelle nach dem Kriege schwappte zunächst an die Nordsee, in den Schwarzwald und ins Allgäu, dann nach Österreich  und kulminierte in Bella Italia.
Die Reiselust ins Ausland wurde durch Produktionen der leichten Muse befeuert. Für Österreich konnte man auf den reichen Schatz von Operetten und auf die Wiener Lieder zurückgreifen. Auf allen Kanälen trällerte man „Im weißen Rössl am Wolfgangsee“, Im Salzkammergut, da kann man nur lustig sein“, „Wien, Wien nur du allein, du sollst die Stadt meiner Träume sein“, und zum Lobe Italiens wurden Evergreens neu interpretiert und neue Schlager am Fließband kreiert, zum Beispiel „Die Capri-Fischer“, „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein und Italiens blaues Meer im Sonnenschein“, „Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer“, „Es war an einem Frühlingstag im sonnigen Sorrent“, „Das hat die Tante Emma aus Italien mitgebracht“.
                                                                                    Doch bevor die ersten Käfer-Kolonnen über die Alpen fuhren, war schon Anfang der 50er Jahre in Deutschland das Reisefieber ausgebrochen. Meine Eltern polierten alte Fahrräder mit Gesundheitslenkern wieder auf und fuhren mit mir, meinen Geschwistern und unserem Hausmädchen ins Sauerland und in die Lüneburger Heide. Wir übernachteten aus Kostengründen in Jugendherbergen. Ich fand es herrlich, wenn mittags am Wiesenrain der Spirituskocher angeworfen wurde, wir einfachste Gerichte zubereiteten und von den ungewohnten körperlichen Anstrengungen ermüdet im Grase einen erquickenden Mittagsschlaf machten. Und wie romantisch war es abends in den Jugendherbergen, wenn die alten Volkslieder gesungen wurden und Jung und Alt, von keiner Ideologiekritik verunsichert, mitmachten. Man konnte bei den Texten seine Fantasie so schön schweifen lassen: „Wir wollen zu Land ausfahren, wohl über die Berge weit, aufwärts zu den klaren Gipfeln der Einsamkeit“,…..“Es blüht im Walde tief drinnen die blaue Blume fein, die Blume zu gewinnen zieh'n wir ins Land hinein. Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss, und wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein. Text: Hjalmar Kutzleb (1911), Musik: Kurt von Burkersroda (1912)“ oder 

Hoch auf dem gelben Wagen
sitz' ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben,
lustig schmettert das Horn.
Berge Täler und Auen,
leuchtendes Ährengold,
ich möcht' in Ruhe gern schauen;
aber der Wagen, der rollt.
[...]
Sitzt einmal ein Gerippe
hoch auf dem Wagen vorn,
hält statt der Peitsche die Hippe,
Stundenglas statt Horn.
Sag ich: Ade, nun, ihr Lieben,
die ihr nicht mitfahren wollt,
ich wäre so gern noch geblieben,
aber der Wagen, der rollt.
(„Den Text des Volkslieds Hoch auf dem gelben Wagen dichtete der Schriftsteller Rudolf Baumbach (1841-1905) im Jahr 1879, also vor fast 140 Jahren. Erst 1922 kam die heute bekannte Melodie hinzu. Komponiert hat sie Heinz Höhne (1892 -1962), Apotheker und Komponist einiger Wandervogellieder.“ https://www.lieder-archiv.de/hoch_auf_dem_gelben_wagen-notenblatt_300175.html)
oder „Kein schöner Land in dieser Zeit“, das auf Anton Wilhelm von Zuccalmaglio zurückgeht und 1840 erstmals veröffentlicht wurde. (Siehe Wikipedia)
Auf diesen ersten Reisen, die sich jeder leisten konnte, wenn er sich nur aufraffte, war Romantik wohlfeil und störungsfrei. Die schrecklichen Kriegserfahrungen waren allen noch sehr gegenwärtig, sodass keiner die heile Welt der Volkslieder in Frage stellen wollte.
Am Ende der 50er Jahre wurden Busreisen erschwinglich. Ich machte 1962 die erste Busreise mit meiner späteren Frau an die Adria-Küste nach Riccione. Man konnte bei diesem Urlaub schön beobachten, wie sich die Reisewelle und die Fresswelle begegneten. Nachmittags liefen italienische Verkäufer am Strand umher und boten Berliner Ballen feil, die reißenden Absatz fanden, obwohl alle Gäste unseres Hotels Vollpension gebucht hatten. Uns ist aber diese Reise mehr deshalb in Erinnerung geblieben, weil wir erleben durften, wie leicht damals noch Völkerverständigung war. Wir fuhren von Riccione mit dem Bus zur Besichtigung von Florenz. Auf der Rückfahrt hatte sich der landschaftliche Reiz der Apeninnen erschöpft, und es wurde ein wenig langweilig. Unsere Reisegruppe bestand etwa zur Hälfte aus Engländern und zur Hälfte aus Deutschen. Ich verfügte damals über ein Repertoire von englischen Songs, schnappte mir das Bord-Mikrofon und stimmte eines der englischen Lieder an. Die Briten waren begeistert, sangen sofort mit und wollten deutsche Volkslieder kennenlernen, deren Text ich ihnen, so gut ich es konnte, übersetzte, damit sie sich nicht nur an den Melodien erfreuen konnten. Der Enthusiasmus hielt auf beiden Seiten während der gesamten Rückreise vor, und so entwickelten Deutsche und Engländer über ihre Lieder viel Sympathien für einander.
Der Reisebericht wird fortgesetzt.
© Ekkehart Mittelberg, Dezember 2017

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Kommentare zu diesem Text

Festil (59)
(09.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Ich danke dir für das schöne Kompliment und die Empfehlung/Favorisierung, Festil. Meine Erinnerungen an diese Reisen sind noch sehr lebendig und deshalb fiel es mir leicht, so zu schreiben.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (09.12.17)
Ich verfügte damals über ein Repertoire von englischen Songs, schnappte mir das Bord-Mikrofon und stimmte eines der englischen Lieder an.
Die "Auseinandersetzung mit anderen Kulturen" ist bisweilen ziemlich einfach.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 09.12.17:
Merci, Trekan. wenn man sich öffnet und spontan handelt, ist die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen wirklich recht einfach.

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 09.12.17:
Und singen ist bestimmt einer der besten Wege. Wenn man dann noch schön falsch singt - was ich dir nicht unterstellen möchte - hat man die Leute schnell auf seiner Seite.
Sätzer (77)
(09.12.17)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 09.12.17:
Gracias, Uwe, mit dem ersten Auto hat es bei mir sehr lange gedauert. Es sollte die Borgward Isabella sein. Als ich sie mir leisten konnte, wurde sie nicht mehr hergestellt. LG
Ekki
Sätzer (77) ergänzte dazu am 09.12.17:
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Graeculus (69) meinte dazu am 09.12.17:
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Gerhard-W. (78)
(09.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Merci, Gerhard,ich vermute, dass du beim Kochen singst. Das haben wir damals auf unseren Radtouren gemacht und konnten einander sogar verstehen, so gering war der Autoverkehr.
LG
Ekki

 Jorge (09.12.17)
Gerne liess ich mich durch dich in alte Zeiten zurückführen und frischte meine Erinnerungen an Urlaube mit den Eltern in den 50er und 60er Jahren auf. Erstaunlich, dass die Ohrwürmer von damals länger parat sind, als die Texte aktueller Schlager.

LG
Jorge

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Mercdi, Jorge,
dass die Ohrwürmer von damals länger parat sind, könnte daran liegen, dass man nicht nur Wert auf Rhythmus, sondern auch auf die Melodie legte.
LG
Ekki

 Habakuk (09.12.17)
Gefällig erzählt. Die Mundorgel war damals unter Jugendlichen noch ein Begriff. Ob das heute noch so ist, nun ja, Zweifel sind erlaubt. Das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ ist mir zu meiner Schande erst durch Walter Scheel geläufig geworden. Wobei ich den Begriff „Schwager“ in dem Lied auch erst später richtig eingeordnet habe.

Gruß

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Lieber Habakuk,
ich denke auch, dass die Mundorgel damals mehr genutzt wurde.
Auch ich habe den Begriff "Schwager " in dem Lied "Hoch auf dem gelben Wagen" falsch gedeutet. Das lag auch daran, dass mir die 4. Strophe nicht bekannt war.
Grazie und BG
Ekki
Fabi (50)
(09.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Merci, Fabi, meine Generation kennt noch relativ viele Volkslieder auswendig. Ich habe sie noch von einem Hausmädchen gelernt, dem ich beim Spülen helfen musste. Später habe ich das freiwillig und gerne getan.
LG
Ekki
Sabira (58)
(09.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Grazie, liebe Sabira. Später hatten wir genügend Geld für Fernreisen. Doch es gab dabei nicht mehr so schöne persönliche Erlebnisse, denn die Reseveranstalter hatten selbst sogenannte. Abenteuerreisen so durchorganisiert, dass nur noch sehr begrenzt persönliche Erlebnisse möglich waren.
Die Fortsetzung wird ein besonderes persönliches Reiseerlebnis enthalten.
LG
Ekki

 Didi.Costaire (09.12.17)
Damals war Reisen noch spannender als in der heutigen Zeit der Holiday Resorts. Und die Musik war auch irgendwie flotter.
Gerne davon gelesen.
Schöne Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Merci, Didi, es ist nicht nur subjektives Empfinden, dass Reisen damals spannender waren, denn wenn man vor Ort etwas erleben wollte, musste man alles selbst organisieren und dabei geschah öfter Unvorhergesehenes.
Schöne Grüße
Ekki

 harzgebirgler (09.12.17)
fernweh liegt dem mensch im blut
weshalb er gern reisen tut
fressen tut er gleichfalls gern -
beides ist am ausufern...

herzliche grüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.12.17:
Merci,Henning,
Es fehlt nicht an mahnenden Rufern,
dass Reisen und Fressen ausufern.
Herzliche Grüße
Ekki

 AZU20 (10.12.17)
Meine Eltern hatten es nicht so mit dem Reisen. Damit habe ich erst als Leiter von Jugendgruppen viel später angefangen. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.12.17:
Danke Armin, aufgrund deiner schönen Reisewerke weiß ich, dass du Versäumtes gründlich nachgeholt hast.
LG
Ekki

 TassoTuwas (10.12.17)
Ekki, wenn ich erklären sollte, wie man mit solchen hausbackenen, oder wie man heute sagt, uncoolen Events, so unbeschwert das Leben als etwas Großartiges genießen konnte, denn fällt mir der Film "Wir Wunderkinder" ein.
Da sangen Müller und Neuss das Lied, "Leute genießt die Nachkriegszeit, denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit" !Gottseidank hatten sie da nicht Recht!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.12.17:
Grazie, Tasso, ein wunderbarer Film: "Wir Wunderkinder". Wie wahr ist der Song über die Nachkriegszeit, die bald wieder zur Vorkriegszeit wird.
Herzliche Grüße
Ekki
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