Trinken bis zum Hinaustragen

Bericht zum Thema Sucht

von  EkkehartMittelberg

Vermutlich wurden alle meine Leserinnen und Leser schon in irgendeiner Form mit Alkoholsucht konfrontiert. Einmal geschah dies meiner Frau und mir auf einer Busreise über Schweden und Finnland nach Nordnorwegen in die Kleinstadt Karasjok so nachhaltig, dass wir fassungslos waren. Das Wort fassungslos ist hier keineswegs moralisierend zu verstehen. Es soll nur besagen, dass wir uns das Beobachtete nie angemessen erklären konnten.

Wie konnte dies geschehen? Unser Busfahrer hatte, wie er uns später erzählte, in dem Bus achtzig Flaschen mit hochprozentigen Schnäpsen versteckt und erfolgreich über Grenzkontrollen geschmuggelt.

In Karasjok erwartete uns vor einem Hotel mit einem Tanzkeller bereits eine stattliche Menge, die offensichtlich dem Bus nicht zum ersten Mal begegnet war. Die Menschen rissen dem Busfahrer und seiner Frau die Schnapsflaschen förmlich aus den Händen und zahlten gemessen an den Einkaufspreisen in Deutschland hohe Preise dafür. Dann stürzten sie mit ihrer Beute in den Tanzkeller. Dort angekommen, gab es kein Halten mehr. Sie setzten die Schnapsflaschen an wie Biertrinker an einem heißen Sommertag und tranken sie mit nur kurzen Verschnaufpausen ex.

Es dauerte nicht lange und sie lagen schwer berauscht in der Tanzbar umher.

Selbst heute nach so langem Abstand können wir uns dieses Besäufnis nur unzureichend erklären.

Wir zogen die trostlosen langen Polarnächte in Norwegen in Betracht, die enorm hohen Preise für Alkohol dort, die schwierigen Umstände der Beschaffung und die vergleichsweise noch günstigen Preise des Busfahrers. Was wir uns bis heute nicht erklären können, ist, dass keiner der Trinker den Versuch machte, das lang ersehnte Getränk zu genießen. Sie gossen den Alkohol besinnungslos in sich hinein.



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (05.05.23, 02:43)
Man sagt ja, dass kein Volk so unter dem Alkohol gelitten hat wie die Indianer und die Schweden. Ich denke für die Norweger gilt das gleiche wie für die Schweden.
Man ging von staatlicher Seite hart gegen Alkohol vor. Die Schwarzbrennereien in den Wäldern wurden vernichtet und auch die Abgabe reglementiert. Alkohol gibt es nur sehr sehr teuer in Bars und Restaurants und in staatlichen Systembolaget und nur ab 20 Jahren.

Dass sich da die Menschen mal richtig "besaufen" wollen verstehe ich zwar, halte aber nichts davon. Wenn etwas so teuer ist, sollte man es auch genießen. Denke aber, dass der Wirt das nicht geduldet hätte. Das wäre doch sein Geschäft gewesen. Eile war deshalb geboten.

Irgendwie auch eine spaßige Geschichte.

Herzlichst
Alma Marie

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 07:06:
Merci, Alma Marie, es ist so naheliegend und doch bin ich nicht darauf gekommen, dass der Wirt, die Trinker, die ihm an diesem Tage nichts gebracht haben, schnell wieder los- werden wollte.
Dennoch bleibt das Befremden, dass bei dieser Ex-Trinkerei von Genuss überhaupt nicht die Rede sein konnte.
Herzlichst
Ekki

 Regina (05.05.23, 02:55)
Alkoholsüchtige, denen ihr Stoff eine Weile fehlt, zeigen Reaktionen, die merkwürdig zu beobachten sind. Ich kenne Leute, die drei Wochen für das amerikanische Militär arbeiteten, wo sie den Truppenübungsplatz nicht verlassen und also keinen Alk konsumieren konnten. Die sind am Ende in Richtung einer Bar gerannt wie Olympioniken. Der Alkoholentzug schlug den Sexentzug um Längen.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 05.05.23 um 07:11:
Grazie, Regina, deine Beobachtung des von Abhängigkeit erzeugten Drucks ist eine gute Erklärung für das hastige Saufen.
Verlo (65)
(05.05.23, 04:08)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 05.05.23 um 07:13:
Vielen Dank, Verlo, deine Kenntnis des Landes ermöglichte zusätzliche Erklärungen.

 AchterZwerg (05.05.23, 07:08)
Lieber Ekki,

man muss gar nicht so weit reisen, um derlei zu erleben.
Mir wurde beispielsweise wahrheitsgemäß berichtet, dass in einem unserer Nachbardorflokale regelmäßig ein sog. Wetttrinken mit harten Getränken stattgefunden habe. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für den Preisträger bedeutete - und für die jolende Menge.

Ich denke jedoch, dass "besinnungslose" Insichhineinschütten nicht unbedingt mit einer Alkoholsucht einhergeht Manche können es vertragen / aushalten und geraten nicht in eine Abhängigkeit, andere doch. -
Getoppt werden solche eigentümlichen Veranstaltungen in meinen Augen nur durch die Fresswettbewerbe in den Vereinigten Staaten ...

Herzlichst
Piccola

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 05.05.23 um 07:23:
Gracias, Piccola, man sollte es nicht für möglich halten, zu welchen primitiven Handlungen Sensationslust Menschen treiben kann.
Die Bergleute in meiner Heimat tranken auch enorme Mengen von Alkohol. Aber es handelte sich um Bier und sie genossen es in aller Ruhe.
Herzlichst
Ekki
Teolein (70)
(05.05.23, 08:06)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 05.05.23 um 09:24:
Gracias, Teo. Mir geht es genau so. Je mehr Rebensaft, desto größer mein Hang zur Zärtlichkeit. Ich bin mal mit kuriosem Ausgang beschwipst zum Fensterln gegangen. Die amüsante Story behalte ich noch in petto.
Viel Maiensonne für dich
Ekki
Teolein (70) meinte dazu am 05.05.23 um 10:05:
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 Saira meinte dazu am 05.05.23 um 18:48:
:D

 uwesch (05.05.23, 09:12)
Die Nordländer waren schon lange sehr anfällig für übersteigerten Alkoholismus. Weil der Stoff in Dänemark sehr teuer war/ist deckten sie sich häufig in Flensburg ein, wo ich wohnte. Wir kauften dagegen Butter und Cornflakes dort drüben billig ein. Das war auf jeden Fall gesünder    LG Uwe

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 09:31:
Danke, Uwe. Vererbungstheoretiker behaupten, die Nordländer hätten ihren Hang zum Alkohol von den Wikingern geerbt. Die waren bekanntlich dem Met zugetan.  :D
LG
Ekki
Taina (39)
(05.05.23, 14:42)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 16:03:
Spassibo, Taina. Ich habe heute Glück mit den Kommentaren. Sie vergessen keinen, auch die Elche nicht.  :)
LG
Ekki

 Graeculus (05.05.23, 16:11)
Ich habe den Verdacht, daß man zwar einige Details Deines Berichtes auf die regionale Situation zurückführen kann, aber nicht das Phänomen als solches. Der geläufige Begriff des Komasaufens stammt ja nicht von dort. Ich schätze, daß man auf 'Malle' ähnliches beobachten kann. Das Phänomen ist nicht einmal auf die Neuzeit beschränkt.
Das ist noch keine Erklärung, ich weiß.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 19:06:
Merci, Graeculus, du hast recht, man kann das Komasaufen nicht auf die regionale Situation zurückführen. Aber ich denke, dass es nirgendwo auf der Welt einen solchen Notstand der besinnungslosen Abhängigkeit spiegelt wie in Skandinavien. 
Wenn sich Menschen auf Mallorca zum Wettsaufen verabreden, ist es ein Zeitvertreib, der mehr oder weniger mit dem Urlaub beendet ist, freilich nicht für Alkoholiker, die solche Anlässe überall auf der Welt nutzen
Bestimmt hast du als Kenner der Antike auch an die Dionysien gedacht. Doch diese Festtage sahen ja die Aufführung von Tragödien und Komödien zu Ehren des Weingottes vor, also nicht nur das besinnungslose Saufen, das auch schon deshalb nicht möglich gewesen wäre, weil diese Feste ja mehrere Tage dauerten. Ein Besäufnis, wie wir es in Skandinavien erlebt haben, würde kein Mensch mehrere Tage nacheinander aushalten. Mir scheint, dass es dort einen Notstand der Abhängigkeit vom Alkohol gibt, der wohl weltweit einmalig ist. Wahrscheinlich sind doch  die im String aufgeführten regionalen Gründe ursächlich für dieses Phänomen.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.23 um 20:16:
Wenn ich die Antike in den Blick nehme, dann denke ich weniger an die Dionysien (wozu ich keine konkreten Angaben über den Alkoholkonsum kenne), sondern als erstes an das exzessive Trinken bei den Makedonen auf ihrem Persien-Feldzug. Das waren tagelange Besäufnisse, speziell bei Alexander dem Großen und seinen Hetairen. Einige Quellen berichten, daß er daran auch zugrundegegangen sei.

Dann gibt es noch 'Rekordberichte' über einzelne Personen wie z.B. den Kaiser Maximinus Thrax, der es auf 16 Liter Wein (gemischt? ungemischt?) pro Tag gebracht haben soll. Der ist allerdings rechtzeitig ermordet worden, bevor seine Leber die weiße Fahne gehißt hat.

Manches mag auch legendenhafte Ausschmückung sein, jedenfalls gibt es diese Überlieferung. Das Angeben gehört vermutlich schon in der Antike zum Saufen.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.23 um 20:21:
Dem Kaiser Tiberius, mit vollem Namen Tiberius Claudius Nero, hat man - so fällt mir gerade ein - den Spitznamen Biberius Caldius Mero verpaßt, was dreifach bedeutet: der Säufer.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 20:48:
Du bereicherst immer wieder die Diskussion durch die Tatsache, dass du etwas mehr weißt als andere. Mir geht gerade auf, dass es wohl einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Rekord-Trinken und dem Komasaufen gibt,  das wir in Skandinavien erlebt haben: Der Wetttrinker muss vermeiden, dass er zu früh sturzbesoffen wird, weil er dann den Rekord nicht mehr aufstellen könnte und weil er bewusst erleben möchte, dass man seine "Leistungsfähigkeit" bewundert. Dem Komasäufer ist der Zeitpunkt des Kontrollverlusts relativ egal. Er strebt ja nicht den Genuss an, sondern sein Bewusstsein auszuschalten.
Nebenbei bemerkt vermute ich, dass die Makedonen während des Persien-Feldzugs so viel gesoffen haben, weil sie glaubten, anders die Barbarei nicht ertragen zu können.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.23 um 22:47:
Sein Bewußtsein ausschalten: "Den Ich-Zerfall, den süßen, schenkst du mir". (Gottfried Benn)

Der Wettkampf-Trinker ist in der Tat ein anderer Fall. Allerdings muß er nicht immer seinen Sieg bewußt erleben. L. Tolstoij schildert eine Variante des Russischen Roulettes: Zwei Männer stellen sich in das offene Fenster eines Hauses im, sagen wir: dritten Stock und trinken eine Flasche Wodka auf Ex. Wer nach drinnen fällt, hat gewonnen. Ob er das nun weiß oder nicht.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.23 um 22:48:
Das mit den Makedonen, also das Motiv, glaube ich nicht, weil Alexander ja eine Verschmelzung der makedonischen mit der persischen Kultur anstrebte. Die Hochzeit von Susa usw.

 Saira (05.05.23, 18:47)
Lieber Ekki,
 
warum saufen sich Erwachsene und Jugendliche ins Koma? Ich vermute, dass es unterschiedliche Gründe gibt. Manch einer wird Probleme haben, ob in der Schule oder in der Familie und wird sich beim Gruppensaufen oder auch alleine die Welt schön trinken. Alkohol berauscht, schenkt Selbstvertrauen, Leichtigkeit (aber auch das Gegenteil!) und das Gefühl vom Erwachsensein bei Jugendlichen. Bei Erwachsenen wird es wohl eher das Bedürfnis sein, sich durch einen Rausch vom Alltagsstress zu lösen, lustig zu sein, aus sich heraus zu kommen.
 
Das Erwachen, also der Kater, reicht leider meist nicht aus, um ein Umdenken stattfinden zu lassen. Die Gefahr, dass Alkohol, das bekanntermaßen ein Zellgift ist, schwerste Organschäden zufügen kann, ebenso eine schreckliche Alkoholsucht, scheint vielen nicht bewusst zu sein.
 
Liebe Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 20:59:
Vielen Dank Sigi. Vielleicht bin ich jetzt etwas spitzfindig, denke aber, dass man die Motive des Saufens und des Komasaufens unterscheiden muss. Du hast aus meiner Sicht Motive des Saufens gut erklärt. Das Komasaufen hat nur ein Ziel: das Vergessen in möglichst kurzer Zeit. Mit Logik kann ich mir das jedoch nicht erklären, weil der ernüchternde Kater danach erschlagend sein muss. Demnach sind Komasäufer aus meiner Sicht total süchtig.

Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (05.05.23, 18:56)
So ist das bei Alkoholikern eben. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.23 um 21:03:
Hallo Armin, ich hoffe, dass dir diese Diskussion nicht auf die Nerven geht.

LG
Ekki

 TassoTuwas (06.05.23, 01:06)
Lieber Ekki,
ich muss gestehen, dieses Treiben hätte auch mich sprachlos gemacht.
Dass jemand sich mal volllaufen lässt, ist etwas anderes als so ein kollektives Besäufnis.
Vielleicht ist es gerade das staatliche Bestreben durch überhöhte Preise den Alkoholkonsum einzudämmen, das zu derartigen Exzessen führt.
Und jetzt genehme ich mir EINEN Gin-Tonic!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.05.23 um 15:35:
Graias Tasso, ich glaube auch, dass die Bemühungen des Staates zur Eindämmung der Exzesse eher kontraproduktiv sind.
Herzliche Grüße
Ekki
Agnete (66)
(06.05.23, 18:58)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.05.23 um 20:24:
Merci, Monika,
wer den Genuss steuern kann, lebt gut mit allen Rauschgiften, aber das Problem ist, dass er Abhängigen als Berufungsfall dient.

LG
Ekki

 plotzn (09.05.23, 15:09)
Servus Ekki,

bei solchen Exzessen geht es meiner Meinung nach nie um Genuss (wie beim Trinken eines Glases Weins) sondern um die schnellstmögliche Erreichung eines (Rausch)Zustands. Da unterscheidet sich harter Alkohol nicht von anderen harten Drogen.
Die Frage bleibt, warum sich eine ganze Gruppe so danach sehnt, der realität zu entfliehen...

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.05.23 um 20:22:
Gracias, Stefan, ich vermute, dass diese Gruppe nahe am Polarkreis einer kollektiven Depression entfliehen wollte.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (12.05.23, 11:30)
sich derartig ein' auf die lampe zu gießen
lässt nur noch im hirn blaue kornblumen sprießen.  :(

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.23 um 19:59:
Merci, da muss ich sehr aufpassen; denn ich liebe Kornblumen über alles.
LG
Ekki
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