Frühe Begegnungen mit dem Tode

Text zum Thema Tod

von  EkkehartMittelberg

Meine Generation begegnete dem Tode früher als spätere Generationen, die ihn nach Möglichkeit unsichtbar machten.
Ich konnte mir das Bild meiner verstorbenen Urgroßmutter und Großmutter noch tief einprägen.
Das lag daran, dass in meiner Kindheit die Verstorbenen noch bis zur Bestattung in dem Hause aufgebahrt wurden, in dem sie gelebt hatten.
Ich erinnere mich, dass ich nach kurzem Blick auf die Toten von dem Sarge floh, weil mir der Tod unheimlich war. Aber nachdem ich mich gefasst hatte, näherte ich mich wieder mit weniger Beklemmung den Verstorbenen, weil ich es faszinierend fand, sie längere Zeit betrachten zu dürfen, um ihre Gesichtszüge in mich aufzunehmen. Es war eine Zeit, wo man von den Toten wirklich Abschied nahm und einem der Tod als Mysterium viel näher war.
Ich ahnte damals nicht, dass ich bald mit seiner schrecklichen Seite konfrontiert würde. In unserem Hause lebte nach dem Kriege ein taubstummes Ehepaar mit zwei taubstummen schulpflichtigen Kindern als Mieter. Er war Schneider und sie assistierte ihm als Näherin bei der Arbeit. Es versteht sich von selbst, dass diese Menschen sehr still waren und dass sich die Kommunikation mit ihnen auf wenige Gesten beschränkte. Es war diesem oberflächlichen Umgang geschuldet, dass meine Familie und ich glaubten, unsere Mitbewohner seien trotz ihrer schweren Behinderung zufrieden. Das glaubten wir bis zu dem Abend, als ich den Keller hinabstieg, um Kohlen zu holen.
Der taubstumme Schneider hatte sich am Fuße der Kellertreppe erhängt. Ich konnte mich vor Schreck einige Sekunden lang nicht von der Stelle lösen, lange genug, um den grässlichen Anblick nie zu vergessen.
Was unmittelbar danach geschah, weiß ich nicht mehr, weil mich meine Elteren, die ich nach der anfänglichen Erstarrung um Hilfe gerufen hatte, von dem Toten fernhielten.
Ich habe nie erfahren, was die Ursache des Suizids war, denn die Witwe konnte sich uns ja nicht mitteilen. Die wenigen Verwandten, die zur Beerdigung erschienen waren, mutmaßten mit uns, dass man materielle Not wohl ausschließen konnte, denn der Schneider hatte offensichtlich zahlreiche zufriedene Kunden. Die Witwe verzog mit ihren beiden Kindern schon bald in eine andere Stadt.
Das tragische Ereignis trug u. a. dazu bei, dass ich mich als Kind und Jugendlicher mehr mit dem Tode befasste, als das heute üblich ist. Das führte nicht dazu, dass ich an Respekt gegenüber dem Tode einbüßte, aber der Umgang mit Bildern und entsprechenden literarischen Texten hatte zur Folge, dass der Tod für mich außer Schrecken auch Erlösung bedeutet.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (08.04.21)
Sehr eindringlich. Besonders die Geschichte um die taubstumme Familie.

Kommentar geändert am 08.04.2021 um 10:08 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Merci, Graeculus, manchmal werden Texte deshalb eindringlich, weil das von ihnen beschriebene Geschehen so ist.
klausKuckuck (71)
(08.04.21)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 08.04.21:
Danke, Klaus, das wollte ich darstellen und dass man ihm nicht ein Leben lang ausweichen sollte.

 Quoth (08.04.21)
Hallo Ekki (falls ich Dich auch so nennen darf), gehöre ich als drei Jahre jüngerer noch zu Deiner Generation? Mir wurde der Tod meiner Großmütter (beide starben, als ich Kind war) nur sehr schonend mitgeteilt, von einer Teilnahme an ihrer Beisetzung waren Kinder ausgeschlossen. Die Todesverdrängung war bereits voll in Kraft, scheint mir, vielleicht auch als Reaktion auf die Allgegenwart des Sterbens im Krieg: Den wollte man nun endgültig hinter sich lassen, vergessen - und verdrängen. Die traumatisierende Begegnung mit dem Selbstmord freilich blieb immer möglich.
Aber es zeigt sich auch Licht am Ende des Tunnels: Die Erkenntnis, dass der Tod (nicht nur für Dich!) "außer Schrecken auch Erlösung bedeutet", trägt die Hospizbewegung und den Ausbau der Palliativmedizin als unverzichtbaren Teil der Ausbildung zum Arzt. Die Zeit der erbarmungslosen Lebensverlängerer (die meinem Vater das Sterben zur Hölle gemacht haben) sollte vorbei sein, und sogar die Pandemie mit ihren Quarantäne- und Isolationszwängen hat den Tod als Bestandteil unserer Natur vom Rande der Gesellschaft wieder mehr in ihre Mitte gerückt! Vielen Dank für den anregenden Text! Gruß Quoth

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 08.04.21:
Lieber Quoth, ich danke dir sehr, dass du die Anregung meines Textes unter verschiedenen Perspektiven aufgenommen hast. Vielleicht hast du Recht, dass die Todesverdrängung schon in unserer Generation unter dem Eindruck des Krieges begann. Ganz sicher ist deine Beobachtung richtig, dass die Corona-Pandemie den verdrängten Tod wieder in den Mittelpunkt unseres Lebens rückt.
LG
Ekki

 AchterZwerg (08.04.21)
Ein interessanter Text!
Du stellst einem (annehmbaren) natürlichen Ableben den Freitod gegenüber, der von der Nachwelt viel schwerer zu akzeptieren ist, besonders natürlich von einem Kind.
Stummes Dasein wird mit Zufriedenheit verknüpft - ebenfalls ein spannender Gedanke, gerade in pandemischen Zeiten.

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.04.21:
Vielen Dank, Piccola, der von mir beschriebene Freitod hatte noch eine besondere Brisanz dadurch, dass er sich "aufdringlich" allen Blicken darbot.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (08.04.21)
der tod als versammlung des daseins in sein ende
ist seine vollendung die anders nie stattfände.

lg
henning

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 08.04.21:
Gracias, Henning, es ist tröstlich, den Tod als Vollendung des Daseins zu sehen. Manchmal ist er das ja auch.

LG
Ekki

 Borek meinte dazu am 08.04.21:
Lieber Ekki,
Der Tod hat beängstigende Erinnerungen aus dem Jahr meiner
Kindheit 1945 hervorgerufen. Am, 8 Mai zogen bei uns am Morgen
die Russen ein und am 7 Mai hatte die SS einen Lancer ohne Waffen
noch an einen Laternenmast erhängt. Der Krieg war vorbei, dies wussten alle Menschen, aber Fanatismus schützt vor Dummheit nicht, auch heute
noch nicht. Aber Dein Weg in den Kohlenkeller erinnert mich an eine
schlimme Zeit 1946. Eine Enteignungswelle rollte über die russische
Besatzungszone. Meine Eltern hatten eine Woche lang Kontrollen.
Finanzkontrollen, Punktkontrollen (Das waren die Punktkarten der Bürger für Kleidung) und eine Kontrolle der Russen, das war die Anständigste, alle suchten etwas zu finden. Mein Vater ein überkorrekter Kaufmann konnte keinen Unebenheiten im Geschäftsleben dulden.
So schaufelten sie die ganzen Kohlen im Keller um und fanden das
versteckte Handwerksmaterial unseres Nachbarn, ein Schlosser, der das
Material bei einer Heizungsreparatur bei uns bevor die Russen kamen
versteckt. Jedenfalls haben wir die Enteignungswelle überstanden,
Auch trotz ruhigen Gewissen war es eine enorme Nervenbelastung
So werden Erinnerrungen wieder wach
liebe Grüße
Borek

 Borek meinte dazu am 08.04.21:
Lieber Ekki,
Der Tod hat beängstigende Erinnerungen aus dem Jahr meiner
Kindheit 1945 hervorgerufen. Am, 8 Mai zogen bei uns am Morgen
die Russen ein und am 7 Mai hatte die SS einen Lancer ohne Waffen
noch an einen Laternenmast erhängt. Der Krieg war vorbei, dies wussten alle Menschen, aber Fanatismus schützt vor Dummheit nicht, auch heute
noch nicht. Aber Dein Weg in den Kohlenkeller erinnert mich an eine
schlimme Zeit 1946. Eine Enteignungswelle rollte über die russische
Besatzungszone. Meine Eltern hatten eine Woche lang Kontrollen.
Finanzkontrollen, Punktkontrollen (Das waren die Punktkarten der Bürger für Kleidung) und eine Kontrolle der Russen, das war die Anständigste, alle suchten etwas zu finden. Mein Vater ein überkorrekter Kaufmann konnte keinen Unebenheiten im Geschäftsleben dulden.
So schaufelten sie die ganzen Kohlen im Keller um und fanden das
versteckte Handwerksmaterial unseres Nachbarn, ein Schlosser, der das
Material bei einer Heizungsreparatur bei uns bevor die Russen kamen
versteckt. Jedenfalls haben wir die Enteignungswelle überstanden,
Auch trotz ruhigen Gewissen war es eine enorme Nervenbelastung
So werden Erinnerrungen wieder wach
liebe Grüße
Borek

 Borek meinte dazu am 08.04.21:
Lieber Ekki,
Der Tod hat beängstigende Erinnerungen aus dem Jahr meiner
Kindheit 1945 hervorgerufen. Am, 8 Mai zogen bei uns am Morgen
die Russen ein und am 7 Mai hatte die SS einen Lancer ohne Waffen
noch an einen Laternenmast erhängt. Der Krieg war vorbei, dies wussten alle Menschen, aber Fanatismus schützt vor Dummheit nicht, auch heute
noch nicht. Aber Dein Weg in den Kohlenkeller erinnert mich an eine
schlimme Zeit 1946. Eine Enteignungswelle rollte über die russische
Besatzungszone. Meine Eltern hatten eine Woche lang Kontrollen.
Finanzkontrollen, Punktkontrollen (Das waren die Punktkarten der Bürger für Kleidung) und eine Kontrolle der Russen, das war die Anständigste, alle suchten etwas zu finden. Mein Vater ein überkorrekter Kaufmann konnte keinen Unebenheiten im Geschäftsleben dulden.
So schaufelten sie die ganzen Kohlen im Keller um und fanden das
versteckte Handwerksmaterial unseres Nachbarn, ein Schlosser, der das
Material bei einer Heizungsreparatur bei uns bevor die Russen kamen
versteckt. Jedenfalls haben wir die Enteignungswelle überstanden,
Auch trotz ruhigen Gewissen war es eine enorme Nervenbelastung
So werden Erinnerrungen wieder wach
liebe Grüße
Borek

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Vielen Dank, Borek. Ich erinnere mich wie du noch gut an das Ende des Weltkriegs. Es gab damals viele furchterregende Todesfälle, weil das öffentliche Leben für kurze Zeit außer Kontrolle geriet. Das Schlimmste waren Erschießungen durch fanatische Nazis, die du erwähnst.
LG
Ekki

 TassoTuwas (08.04.21)
Hallo Ekki,
auf welchem Wege sich die Gesellschaft befindet lässt sich am Umgang mit dem Tod, bzw. mit den Toten feststellen.
Die Erschütterung und Ehrfurcht von früher, ist heute der Jagd nach dem besten Platz zum Filmen eines Unfalles, den man dann posten kann, gewichen.
Mich macht das sprachlos.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Hallo Tasso, ich denke, dass wie ich viele mit dir über diese Perversionen entsetzt sind. Ob sie dadurch entstehen, dass wir den Tod zu oft in reißerischen Filmen sehen, wo er nicht schmerzt?
Herzliche Grüße
Ekki

 GastIltis (08.04.21)
Lieber Ekki,
da ich mich künftig kürzer als sonst und ohne persönliche Erklärungen äußern will: Dein Text ist sehr beeindruckend und wirkt nachhaltig. Hoffentlich auch auf die, die sich nicht so angesprochen fühlen.
Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Vielen Dank, Gil, ich schreibe schon so viele Jahre auf kV und müsste die Reaktionen der Leser sicher einschätzen können. Kann ich aber nicht. Der typische kV-Leser ist sehr eigenwillig und lässt sich ungern lenken. Doch die unvorhergesehenen Reaktionen sind spannend.
Ich werde deine ausführlichen Kommentare vermissen.
Herzliche Grüße
Ekki
Sin (56)
(08.04.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Hallo Gil, auch deine kurzen Kommentare spornen mich schon über viele Jahre an. Bleib mir gewogen.
LG
Ekki

 eiskimo (08.04.21)
Der Tod wartet hintern den Blättern des Baumes,
aus dem dereinst mein Sarg gebaut werden wird....
Jacques Brel
Dein eindringlicher Text passt perfekt zu einigen Chansons dieses Sängers, der heute seinen 92. Geburtstag gefeiert hätte.
LG
Eiskimo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Gracias eiskimo, Jaques Brel hat mich ein Leben lang begleitet sowie der Tod, der hinter den Blättern des Baumes wartet. Beide zeigen ein freundliches Gesicht.
LG
Ekki
Al-Badri_Sigrun (61)
(08.04.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.21:
Grazie, Sigi, Geschichten, die das Leben schreibt, ergreifen mehr als erfundene.
Herzliche Grüße
Ekki
Hilde (62)
(09.04.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.04.21:
Grazie, so ist es, Hilde. Der Tod wird immer ein Geheimnis bleiben, aber wenn man über in spricht, verliert er seinen Schrecken.
Herzliche Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (11.04.21)
Der Tod kann sehr schockierend sein. Gut geschildert, Ekki!

Liebe Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.04.21:
Gracias, Dirk, deine Bewertung ist mir sehr wichtig.
Liebe Grüße
Ekki
Agnete (66)
(12.04.21)
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