Wir haben Platz - oder: Wer in Berlin U-8 fährt ist dem Tod/e nahe ... und das ist auch gut so

Bild zum Thema Alles und Nichts...

von  alter79


Er steht zum Glück im ersten Wagen, Baureihe A3L71, der U-Bahnlinie 8, Fahrtrichtung Rudow, direkt hinter der Fahrertür - und klopft gegen die Tür. Der Fahrer öffnet - und er befiehlt ihm, schneller zu fahren. 

„Fahr schneller!“ 

„Sind Sie sich da sicher?“, fragt der Kontrolleur und verkauft seine Frage nach den Fahrausweisen an die nächsten Passagiere, als sei nichts geschehen -, gibt das Restgeld bei Strafe heraus und locht die kleinen rechteckigen Kärtchen den Wünschen entsprechend nach. Die stinkig, sauerstoffarme Hitze erdrückt ihn fast. Alles glänzt und flirrt in einem plötzlichen Blitz, den er sich nicht erklären kann. Schweißperlen laufen die Fensterscheiben herab. Und die Blendung der Scheibe entzieht seinem Umfeld jegliche Farbe. 

Aus den Plastiksitzen mit den tätowierten Mustern züngeln Flammen. Rauch erfüllt den gesamten Wagon. Die Existenz eines Feuers macht womöglich auf eine Gefahr aufmerksam, denkt er, und bleibt in seiner Aufgeregtheit dennoch ruhig. 

„Fahr schneller!“ 

„Mache ich doch ...!“ 

Dann ist jemand mit einem Feuerlöscher da, sprüht massenhaft Pulver in die Flammen und schreit: „Feuer, Feuer , - alles sofort raus!“ 

Vom anderen Ende des Wagens kommt ein Typ gelaufen und wirft seine Kippe in das halb erloschene Feuer. Danach sein Feuerzeug. Ein Päckchen Zigaretten. Dann pisst er drauf. „Wollte mir sowieso das Rauchen abgewöhnen!“ 

Der Zug steht. Das Feuer ist aus. Der Typ hat die durchweichte Zigarettenschachtel in der Hand, sucht im Schrott nach seinem Feuerzeug, blickt ihm beim Hinausgehen auf die Stirn, hinter der ein Friedhof statt Lebenssinn liegt.  Er geht zur Treppe Richtung Ausgang. Zwei Schritte nur, dann beginnt sich sein Körper vom Boden zu lösen, als hätte er Hermesflügel. Und genau in diesem Zustand der Schwerelosigkeit fliegt er wie ein Blatt im Herbst davon. Befindet sich über Feldern, über Hügeln, hoch und weit weg von den Gefahren der Stadt. Im Hochgefühl ruft er etwas wie ’Freiheit für alle’. Doch es gibt keine Antwort, nicht mal von dem Raucher, der ihm heimlich gefolgt ist. 

„Leih mir mal einen Euro, Alter?“ 

„Verpiss dich!” ist seine Antwort. 

„Mach mal entspannt, ey ...“ 

Danach stürzt der Typ mit einem Urknall ab, und das Universum verschwindet getarnt als schwarzes Loch im U-Bahnschacht. Und auch wenn sie ihn jetzt freilassen würden, mit einer Million zum Schweigen verpflichtet, dieses saukomische Bild wird er nie im Leben vergessen und nicht aufhören, davon zu erzählen. Läuft über den Hermannplatz, will dahin, wo er Leben vermutet. Sieht in einiger Entfernung Mona vor sich -, die mit einer Art von afghanischer Mütze auf dem Kopf, Perlen bestickt. Er sprintet ihr hinterher, erreicht sie, fasst sie bei der Schulter und dreht sie um -, blickt in ein Gesicht mit einem Vollbart, der bis zur Brust reicht.  

„Entschuldigung!“, kann er noch sagen, dann treibt es ihn weiter. Einem Stück Papier im Wind der Hoffnung folgt er, einer Erinnerung, wie er vor wenigen Tagen der Frage nach dem Sinn des Lebens folgte, die immer ein paar Meter Vorsprung hatte. Und dabei blieb es.



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