Nobelpreis für Literatur - und Blick zurück

Dialog zum Thema Literatur

von  eiskimo

Am Tag, als ich erfuhr,  dass László Krasznahorkai den Nobelpreis für Literatur 2025 bekommen wird, fragte ich meinen Telefonjoker für Literatur  „Und? Was soll ich von diesem Ungarn  lesen?“

Der Lesefuchs dachte einen Moment lang nach. Dann: „Du solltest endlich Claude Simon lesen. Nobelpreis genau vor 40 Jahren.“

„Weil er Franzose ist“?  fragte ich augenzwinkernd.

„Nein. Weil der sich so liest, wie er fotografiert und gemalt hat. Und du fotografierst doch. Bei Simon sind es viele in Worte gefasste Gedächtnisbilder – also ganz modern. “

„Klingt kompliziert“,  sagte ich. Und: „Das war damals der Nouveau Roman..“

„Genau. Und du musst Simon auch so lesen, als ob du einzelne Bilder betrachtest.“

„Und László Krasznahorkai? Ist der einfacher?“

„Zu lesen, auf jeden Fall. Aber es heißt: So, wie er den Einbruch der Gewalt und des Horrors in eine geschlossene Welt schildert, sei das nicht unbedingt schön.“




Anmerkung von eiskimo:

Claude Simon, 2005 gestorben,  hätte heute, am 10.10. seinen  112. Geburtstag.

Um eins seiner Werke zu nennen: „Die Straße in Flandern“ (1960). Und die birgt eine Szene, die mir von Claude Simon sehr haften geblieben ist:

Georges, in den Krieg gezwungen und in Gefangenschaft geraten, bekommt Post von seinem Vater. Der beklagt wortreich, dass im Krieg die komplette Leipziger Bibliothek vernichtet worden sei. Worauf Georges sinngemäß entgegnet: Wenn das in all den Schmökern angehäufte Wissen nicht diesen Wahnsinnskrieg hatte verhindern können, dann ist es auch nicht schade drum…

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (10.10.25, 01:24)
Schön muß Literatur ja auch nicht sein - schon gar nicht in einer doch ziemlich unschönen Welt.
Ich kannte den Krasznahorkai überhaupt nicht, muß aber sagen, daß manches, was ich jetzt über ihn gehört habe, mich doch interessiert.

Wie viele gute, lesenswerte Autoren kenne ich eigentlich sonst noch nicht?

 AchterZwerg meinte dazu am 10.10.25 um 07:47:
Sehr viele.
Damit geht es dir ebenso wie mir.  8-)

 eiskimo antwortete darauf am 10.10.25 um 09:27:
Lesenswert, das ist ein gutes Stichwort. Um mit Claude Simon zu sprechen: Dann hätte es Relevanz für unser Handeln und Trachten...

 Graeculus (10.10.25, 11:33)
Wenn das in all den Schmökern angehäufte Wissen nicht diesen Wahnsinnskrieg hatte verhindern können, dann ist es auch nicht schade drum…

Was für eine rigide Forderung an die Literatur! Ist das ihre Hauptaufgabe, die Verhinderung von Kriegen?
Ein gutes Buch ist wie ein Freund, und von einem Freund erwarte ich nicht, daß er entweder einen Krieg verhindert oder nichts taugt.

(Das Zitat muß nicht die Meinung des Autors wiedergeben.)

 eiskimo schrieb daraufhin am 10.10.25 um 13:44:
Ein guter Freund hat vielleicht vorher schon dafür gesorgt - durch Augenöffnen für Kunst, Musik, Forschen und Schönes Entdecken - dass kriegerische Ausraster nicht stattfinden.

 Pfeiffer (10.10.25, 19:54)
Ich möchte dir aber dennoch auch Lásló Krasznahorkaí ans Herz legen. Im heutigen Berliner TAGESSPIEGEL hat Gregor Dotzauer eine sehr lesenswerte Würdigung des frischgebackenen Nobelpreisträgers präsentiert und uns aus dessen Roman "Herscht07769" (Name und Leitzahl eines kleinen Örtchens in Thüringen, in dem Neonazis den Ton angeben) eine Passage zitiert, die für sich selbst spricht:
In den Pausen der Geschichte kriechen sie immer wieder aus der Kanalisation und zerstören, vernichten und erniedrigen alles, was sie erreichen, sie verderben alles, das wertvoll ist, sie versauen, was anderen heilig ist, und mit ihnen verbreitet sich eine Epoche, gegen die es keine Schutzimpfung gibt, denn für uns bedeutet nicht die gesundheitliche Pandemie die größte Gefahr, sondern diese Seuche, deren Symptom es ist, dass sich Menschen von ihrer schlechtesten Seite zeigen und schwach, unermesslich schwach und unermesslich dumm sind.
Aktueller Bezug am Rande: Trifft diese Erkenntnis am Ende vielleicht auch auf ein paar Figuren zu, die sich hier im kv tummeln?
Gruß von Fritz  

 eiskimo äußerte darauf am 10.10.25 um 22:55:
Danke für Deinen Kommentar, der natürlich den aktuelleren Stand der Dinge deutlich macht. Aktueller und wahrscheinlich auch wichtiger, was die Lage im Lande angeht. 
Gruß nach Bedrlin
Eiskimo

 dubdidu ergänzte dazu am 11.10.25 um 15:01:
Pfeiffer, wie Klaus Theweleit, der gleichermaßen authentisch, bescheiden und in sich ruhend auftrat, es vorgestern ausdrückte: das Internet hat den Autoritären und Reaktionären, die es die ganze Zeit in Verborgenen gab, Sichtbarkeit verschafft. Dies wurde auch in den 90ern als die künftige Entwicklung des Internets thematisiert wurde, nicht vorhergesagt, da man sie unter dem Eindruck der Baseballschlägerjahre für zu blöd hielt. Dabei, so Theweleit, hätten diese Kräfte Technologie schon immer für sich zu nutzen gewusst.

Antwort geändert am 11.10.2025 um 18:30 Uhr

 Pfeiffer meinte dazu am 12.10.25 um 13:09:
Ich muss was verbessern in meinem Kommentar; das geht technisch leider nur durch eine Ergänzung.
Der Ort in Thüringen mit der Leitzahl 07769, von dem die Rede ist, heißt Kana, und nicht Herscht: Herscht ist die Hauptfigur im Roman. Sorry...

 Pfeiffer meinte dazu am 12.10.25 um 13:12:
Danke für die Ergänzung, lieber dubdidu: Sie macht noch deutlicher, welche Gefahren uns vom rechten Rad drohen.
Gruß von Fritz
Zur Zeit online: