Unpolitische Literaten

Kommentar zum Thema Literatur

von  eiskimo

Die 1974 geborene Schriftstellerin Juli Zeh („Adler und Engel“, „Die Stille“, „Spieltrieb“, „Unterleuten“…) hat am 8. November den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln erhalten. In ihrer Dankesrede beleuchtete sie die Rolle des politischen Schriftstellers in der Gesellschaft und warnte vor der zerstörerischen Kraft eines  „intellektuellen Politikverdrusses“.

Juli Zeh hat eine denkwürdige Rede gehalten. Darin hat sie für die letzten knapp zwanzig Jahre offen gelegt, wie sehr sich die Autoren, der Literaturbetrieb und  eine Mehrheit der Intellektuellen in überheblicher Weise nicht nur aus der Politik zurückgezogen, sondern diese auch gleich als Spielwiese von Karrieristen und Mittelmäßigen lächerlich gemacht haben.
Womit füllte man dieses Vakuum an demokratischer Mitgestaltung und politischer Bewusstseinsbildung auf? Mit Pop-Literatur und Fräuleinwunder, so Juli Zeh,  „also Formen von Text und Autorenschaft, die das Banal-Alltägliche zum substanziellen literarischen Gegenstand erhoben. Da wurde in Texten stundenlang blicklos aus dem Fenster geguckt, ohne dass irgendetwas passierte außer dem Anzünden und Ausdrücken von Zigaretten. Passiv-aggressive Melancholie jenseits der Sinnkrise.“
Na und, könnte man jetzt einfach sagen. Dann sind zuletzt halt mal diese neuen Themen dran gewesen. Politik ist ja auch alles andere als sexy… Das Problem aber ist: Prompt besetzten andere das frei gewordene Politik-Feld. Rechtsradikale, Populisten, Autokraten , und die waren und sind nicht zimperlich. Die gestalten seitdem diesen ach so uncoolen Politikbetrieb und das mühsame Geschäft der Demokratie  munter um – in ihrem Sinne!
Anders ausgedrückt: Der Rückzug der „geistigen Elite“ ins Private verschaffte  Pegida, AFD, einem Herrn Trump oder Erdogan plötzlich die Deutungshoheit.
Juli Zeh appellierte in ihrer Rede an die „politische Mitte“, sich wieder ihrer Verantwortung für die Demokratie bewusst zu werden. Die, die denken, reden und schreiben können, die müssten sich selber wieder vor den politischen Karren spannen. Zurück aus spinnert-esoterischen Fantasie-Welten in die komplizierte Realität, um da wieder ein positives staatsbürgerliches Bewusstsein wirksam werden zu lassen.  Sonst, so die Autorin, verliere dieses Land sein Rückgrat.


Anmerkung von eiskimo:

Interessant für mich: Die Erinnerung an meinen Beitrag vom 7.6. 2018 „Weltenfern oder ins Leben eingebunden – wie schreiben wir und warum?
Ich beklagte damals für die KV-Literaten die gleiche – sagen wir: politische Zurückhaltung. Ja, ich verglich die Inhalte hier mit einem „poetischen Sandkasten“, der allzu oft eine politische Relevanz vermissen ließ. Das kam nicht gut an, weil es nach sofort nach Vereinnahmung roch oder gar „Kampfliteratur“.
Was Juli Zeh jetzt in ihrer Rede darlegte und wie klug sie das entwickelte, das ist natürlich um Klassen klarer und profunder als meine kleinen Beobachtungen. Darum bin ich gespannt, ob die Erfolgsautorin damit eine nachhaltigere Wirkung erzielt. Sich seiner Rolle in der allgemeinen Meinungsbildung bewusst zu werden, dafür lohnt sich die Lektüre allemal.

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (14.11.19)
Lieber eiskimo, ich könnte jetzt darüber ne Litanei eröffnen, wie wichtig oder unwichtig politische Texte seien ... Ich lass es, denn mich persönlich nervt jenes Getue um (ich schreib mal absichtlich) pseudopolitische Literatur. Damit meine ich bewusst erfundene Geschichten von Judenrettungen im Dritten Reich, in Form gequetschte Ereignisse im Kosovokrieg u dgl., die uns als authentisch verkauft werden. Damit lässt sich eben Geld verdienen!
Wirklich politische Texte, die mich ansprechen, wie die von Brecht oder Kästner usw., die sucht man in der Tat vergeblich. Heute wird aufgepeppt, werbeträchtig, verlagsnah. In dieser Hinsicht gebe ich deinen Worten Recht.
Die Frage, die mich dabei stets bewegt: Wohin soll das führen?
Andere Frage: Ist nur politische Dichtung eine gute Dichtung?

Lotta

 eiskimo meinte dazu am 14.11.19:
Hallo, Lotta!
Danke, dass Du Dich mit meinem Anliegen so schlüssig beschäftigt hast. Pseudo-Politisches brauchen wir wirklich nicht, und was an Authentischem entsteht, ist auch nicht automatisch "gute Dichtung", völlig klar.
Ich sehe die Gefahr, dass unser Gärtchen, wo wir weltverloren wunderschöne Rosen züchten, von Baulöwen und Großinvestoren "umgewidmet" wird. Sprich: Wir müssen schon das real existierende Umfeld im Auge haben und - wenn möglich - den gesellschaftlichen Wandel mitgestalten. Sonst lässt das Klima plötzlich eine Rosenzucht nicht mehr zu, oder das Gärtchen muss weichen, weil da ein neuer Supermarkt hin muss....
Eiskimo
Cora (29) antwortete darauf am 14.11.19:
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 eiskimo schrieb daraufhin am 14.11.19:
Auch Kakteen brauchen ihren Platz und unvergiftete Luft...
Wo ich Dir Recht gebe: Literatur auf Knopfdruck kann es nicht sein.
Umso mehr verwundert es da, wenn große Teile der Schreibenden Politik miss- oder gar verachten.Und ich meine, sie sollten das Feld nicht den Dumpfbacken überlassen.
Cora (29) äußerte darauf am 14.11.19:
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 AchterZwerg (14.11.19)
Lieber Eiskimo,
Juli Zeh drückt sich öfter in FFM herum und sorgt für volle Hörsäle.
Ich hab' sie mal mit dem alten (bildschönen!) Rowohlt erlebt: Däs war äscht nett! - Leider ist der inzwischen verstorben.
In gewisser Weise gebe ich ihr Recht. Leider muss ich aber immer wieder feststellen, dass es weitaus angenehmer ist, wenn sich 90 % aller Poeten gar nicht über Politik äußern. Was ich da schon fürn Mist gehört und gelesen haben ... nee also werklisch.
Brecht und Kästner sind natürlich Ausnahmen. Gerade letzteren liebe ich sehr.
Kurzum: Wers kann, solls machen. Die anderen besser nicht.

Der8.

 TrekanBelluvitsh (14.11.19)
Meine Empfehlung: Robert Harris; Ghost.

 AchterZwerg ergänzte dazu am 14.11.19:
Werd' ich mir gelegentlich besorgen. -
Ist der Rezensent (Dieter W.) unsärn Dietär? *staun

 Artname (14.11.19)
Politik regelt das Gemeinwesen. Gut, Poesie erhöht das Gemeine. Verleiht ihm Strahlkraft. Aber ein Volk hat keinen eigenen Körper. Keinen Geist. Du kannst es nicht mal anfassen wie dass Meer.

Wer oder was ist das Gemeine? Die Mehrheit? Die Superreichen? Wer kennt die Superreichen? Wie sehen sie aus? Wo wohnen sie?

Kann man die entmachten? Politik ist auch Macht. Geheimwesen. Wie aber will man das Geheimwesen verrätseln? Und wem? Und warum?

Willst und kannst du dich auf derartige Diskussionen einlassen?
Sin (55)
(14.11.19)
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 EkkehartMittelberg (14.11.19)
lieber eiskimo, ich habe zwei Anthologien zur Politischen Lyrik herausgegenben, die erste zusammen mit Klaus Peter 1970 "Deutsche politische Lyrik 1814-1970 in Vergleichsreihen" beim Klett-Verlag und die zweite 2001 bei Cornelsen. Obwohl sich beide qualitativ nicht unterschieden, war die erste ein großer Erfolg, die zweite fand nur wenig Beachtung: "Kommt uns nicht mit Fertigem. Politische Lyrik aus zwei Jahrhunderten". Ob politische Literatur ein Echo findet, hängt davon ab, wie stark die Gesellschaft politisiert ist. In den siebziger Jahren war sie es in hohem Maße unter dem Einfluss der Neuen Linken. Seitdem hat sie dieses Ausmaß der Politisierung nicht wieder erreicht. Die politikverdrossenen Schriftsteller spiegeln also nur die gesamte Gesellschaft. Aber ich bin mit dir und Juli Zeh der Meinung, dass das keine Ausrede für Literaten sein darf, sich ins Private zurückzuziehen.
Servus
Ekki
Agneta (62) meinte dazu am 14.11.19:
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 eiskimo meinte dazu am 14.11.19:
@Ekki
Danke für diesen interessanten Exkurs. Da kann ich nicht mithalten, selbst wenn ich die 60er und 70er Jahre als Schüler unmittelbar miterlebt habe. Kriegsdienst-Verweigerung, Vietnam, NATO - wir waren politisch deutlich stärker "unter Strom".
Mit der Wende und dem Ende des Kalten Krieges änderte sich das...
Was mich in dem Zusammenhang besorgt macht: Wie wenig Leute heute noch eine Zeitung abonniert haben. Das ist für mich ein Gradmesser der politischen Mitgestaltung. Wer nur noch ein paar Überschriften mit bekommt im Internet oder Kurz-Infos im Autoradio, der bleibt völlig außen vor. Und wie sollen Leute, die zu uns zugezogen sind und nicht lesen, an Politik mitwirken?
Lassen wir uns nicht unterkriegen!
Eiskimo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.11.19:
@ Monika. Ja, es sind Schulbücher. du kannst sie meines Wissens immer noch übers Internet bestellen. Wenn nicht, informiere mich bitte.
LG
Ekki
@ Eiskimo: Ich teile deine Sorgen und finde deinen Weckruf sehr wichtig.
LG
Ekki
Agneta (62)
(14.11.19)
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 eiskimo meinte dazu am 14.11.19:
Meine Motivation ist auch, noch einmal bewusst zu machen, welche Privilegien wir in dieser unserer Staatsform haben, welche unfassbaren Freiräume.
Zu sehen, dass diese von vielen gar nicht wahrgenommen- von manchen Extremisten wiederum missbraucht werden, das treibt mich auch etwas um.
lG
Eiskimo
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