Mausemann bleibt verschwunden

Anekdote zum Thema Verlust

von  EkkehartMittelberg

In den Fünfziger Jahren gab es unter Lehrern und Schülern zahlreiche Originale. Ich möchte das hier nicht begründen, sondern einfach von meinem Klassenkameraden Mausemann erzählen, einem sympathischen Sonderling.
Sein Spitzname, den er sich selbst zugelegt hatte, war doppelt begründet. Er ließ als Schüler in einem Kaufhaus schon mal eine Kleinigkeit mitgehen, Mopsereien aus lauter Jux und Tollerei, bei denen er eine große Geschicklichkeit bewies und für die Mundraub ein zu großes Wort gewesen wäre. Es handelte sich um Augenblickseinfälle, deren Motiv vielleicht die Freude am Tabubruch in einer prüden Zeit war. Der andere Grund für seinen Fantasienamen lag darin, dass er bei den Mädchen und später im Studium bei den Damen ein erfolgreicher Kater war.
Mausemann war immer für irgendwelche Überraschungen gut. Dazu gehörte auch, dass er sich in den konservativen 50er Jahren intensiv mit Karl Marx beschäftigte, bevor noch unser Klassenlehrer eine Arbeitsgemeinschaft zu dessen Philosophie anbot.
Nach dem Abitur verlor ich ihn für einige Jahre aus den Augen, bis wir uns ungeplant in einer Universitätsstadt wiedertrafen. Er war nach all der Zeit ein Original geblieben. Damals begann die Massenuniversität mit überfüllten Seminaren, und es war sehr schwierig, sich vor dem Examen bei den prüfenden Professoren namentlich bekannt zu machen. Das war für Mausemann kein Problem. Die Universitätsstadt hatte sehr schmale Bürgersteige, auf denen uns unser Lateinprofessor, ein  weltfremder Mensch, begegnete. Ich wollte der Respektsperson soeben Platz machen, aber Mausemann hatte mich untergehakt und blieb abrupt vor dem Professor stehen, der, in Gedanken versunken, überrascht aufblickte. Mausemann lächelte ihn an, deutete auf seine Füße und sagte:        “Herr Professor, Sie haben aber schöne Schuhe.“ Der Lehrkörper stammelte darauf verdutzt einige Worte und ging konsterniert weiter. In der nächsten Seminarsitzung fragte er dann nach Mausemanns bürgerlichem Namen, den er nicht mehr vergaß.
Im Studium entwickelte Mausemann einen durchschnittlichen Fleiß. Aber wie hatte sich der sorglose Sonnyboy verwandelt, als seine Freundin ein Kind erwartete. Er studierte wie besessen bis tief in die Nächte, machte ein gutes Examen und heiratete die junge Frau.
Dann verloren wir uns wieder aus den Augen, bis seine Frau bei mir anrief und sich nach dem Verbleib ihres Mannes erkundigte. Ich konnte ihr auch nicht weiterhelfen.  Auch auf unseren Klassentreffen danach wurde Mausemann nicht mehr gesehen. Versuche, ihn über das Internet ausfindig zu machen, waren erfolglos. Mausemann blieb bis heute verschwunden.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (08.02.18)
Gibt es für so jemanden nicht den schönen Begriff "Spring-ins-Feld"? Und wenn das Feld in voller Blüte steht, kann derjenige auch schon mal darin verschwinden. Liegt womöglich in seiner Natur...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.18:
Merci, Trekan, er ist in einem undurchsichtigen Maisfeld verschwunden, und wir suchen schon seit Jahren vergeblich nach ihm.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 08.02.18:
Vielleicht verdient er sein Geld ja mit Popcorn?
;)

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 08.02.18:
Ich weiß nicht, ob Mäuschen Popcorn fressen, aber wenn dem so ist, hätte er seinem Namen wieder einmal alle Ehre gemacht.
NimbusII (42)
(08.02.18)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.02.18:
Heike, was diesen Menschen für mich interessant macht, ist die Frage, ob er moralisch indifferent ist oder nicht.
Schon möglih, dass er sich in Rio oder auf einer gottverlassenen Karibikinsel tummelt. Dem steht entgegen, dass er vor der Geburt seines Kindes Verantwortung entdeckte. Wer ist der wahre Mausemann und wo ist er?
Ich kenne keinen, der über den Verschwundenen ein endgültiges Urteil fällt.
LG
Ekki

 TassoTuwas (08.02.18)
Solche eigenwilligen Typen machen die Welt bunter!
In diesem Fall kann man sagen, der Kater lässt das Mausen nicht!
Eine amüsante Geschichte.
Herzliche Grüße
TT

 niemand ergänzte dazu am 08.02.18:
@ Tasso
vordergründig betrachtet mögen solche Typen "die Welt bunter machen" doch genauer besehen sind es doch nur egomanische
Schaumacher, die sich vor jeder Verantwortung drücken.
Verantwortung bedeutet ja auch sein Ich ein wenig zurückzunehmen, aber das wäre ja Arbeit. Insofern passt doch der Mausemann in unserer Spaßgesellschaft: Viel herausholen
und so wenig wie möglich reinstecken= [bis auf ein bestimmtes Teil] LG Irene

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.18:
Merci, Tasso, wenn ein Sprichwort zutrfft ist es dieses, vorausgesetzt, dass Mausemann noch in der Lage ist auf die Pirsch zu gehen. Vielleicht schreibt er aber auch einen tractatus philosophicus auf die stets verkannte Tugend der Kater.
Herzliche Grüße
Ekki

@Irene: Danke für die Empfehlung. Du hast recht, dass verantwortungslose Mausemänner zu unserer Spaßgesellschaft passen. Was meinen Klassenkameraden Mausemann angeht, war freilich untypisch,, dass er nicht versuchte, die Vaterschaft zu leugnen und auch sofort bereit war zu heiraten.

Antwort geändert am 08.02.2018 um 12:05 Uhr

 niemand meinte dazu am 08.02.18:
@ Ekki
Na ja, das mit der sofortigen Heirat war vielleicht gar nicht
so uneigennützig wie man denkt. Wenn ihm mal später, im
Alter, sowohl die Kräfte wie die Knete ausgehen sollten,
dann hat er im Hintergrund immer noch Frau und Kind,
welche für ihn sorgen würden/müssten/könnten
im schlimmsten Fall ...

 TassoTuwas meinte dazu am 08.02.18:
I R E N E !
:-)

 Habakuk (08.02.18)
Eine kurzweilige Anekdote, Ekki, in anregend-erfrischendem Sprachgewand. Mit einer trotz des unrühmlichen Endes irgendwie doch sympathischen Hauptfigur. Die Entwicklung des Herrn Mausemann hast du gut dargestellt. Und eine kurze, überraschende Pointe. Den letzten Satz sehe ich als solche an. Die Moral von der Geschicht: Krieg niemals kalte Füße nicht. Oder aber sich im Vornhinein auf Frost einstellen und dicke Socken besorgen.
;-)

BG
H.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.18:
Gracias, Habakuk. Das mit den kalten Füßen hilft bei künftigen Recherchen nach dem Verbleib weiter. Sie sollten sich auf tropische Länder konzentrieren.
BG
Ekki
Sabira (58)
(08.02.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.18:
Grazie, Sabira, auch für mich hat die Geschichte nicht nur heitere Aspekte, denn wenn jemand spurlos verschwindet, wäre es fahrlässig, nicht auch einen kriminologischen Kontext einzubeziehen.
LG
Ekki

 GastIltis (08.02.18)
Hallo Ekki, erinnert mich an O. Henrys Geschichte von „Black Bills Schlupfwinkel“. Eine Ranch, Schafe und ein Eisenbahnräuber, Black Bill, der seinen Arbeitgeber verpfeift, indem er ihm die Scheine vom Raub in die Kleidung schiebt. Nachdem er die Story einem Kumpel erzählt hatte, der das sehr schäbig fand, gestand er es ihm mit den Worten: „Black Bill war ich.“ Ähnlichkeiten zu deinen handelnden Personen anzudeuten, verbieten sich (leider). LG von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.18:
Merci, Gil, ich dachte mir schon, dass die Anekdote unterschiedliche Assoziationen auslösen würde. Das ist ganz natürlich, wenn einer verschwindet, ohne sich irgendwo abgemeldet zu haben.
LG
Ekki

 AZU20 (09.02.18)
Ob da ein Kätzchen im Spiel war? LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.02.18:
Danke, Armin, von allen denkbaren Varianten erscheint mir diese am wahrscheinlichsten.
LG
Ekki

 harzgebirgler (09.02.18)
ja manche wissen spuren zu verwischen
um anderswo wem märchen aufzutischen
doch oftmals kommt der tod auch wohl dazwischen.

herzliche abendgrüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.02.18:
Wenn er die Spuren gut verwischt,
werden die Karten neu gemischt.
Danke Henning und herzliche Grüße zurück
Ekki
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