Meine Großtante Friede fuhr jede Woche mit einem Bus der Linie 10 zu meinem Elternhaus, um meiner Mutter im Haushalt zu helfen. Sie bekam dafür ein wenig Geld. Als sie alt wurde, kam sie auch noch jede Woche und bekam ein wenig Geld, half aber nicht mehr.
Wenn ich mit dem Bus von der Schule nach Hause fuhr, setzte ich mich in eine der letzten Reihen. Manchmal saß sie vorne, in der Nähe des Busfahrers, auf dem Sitz für Menschen mit Handicaps. Ich hoffte darauf, dass sie mich nicht erkannte. Parallel zu ihr, auf dem anderen Sitz für Menschen mit Handicaps, saß dann häufig eine alte Dame oder ein älterer Herr, mit dem/der sie vergleichsweise rasch in einen Austausch über ihre Familie und ihre Herkunft geriet. Wenn dort niemand saß, war auch der Busfahrer ein ergiebiger Gesprächspartner. Selbstverständlich waren alle ihre Verwandten etwas Besseres. Sie selbst war unter anderem deshalb besser, weil sie - seinerzeit - eine Ausbildung als Hauswirtschafterin auf Schloss Holte Stukenbrock(?) begonnen hatte(, die sie jedoch niemals abschloss, wie sie auch sonst keine Arbeitsstelle lange durchhielt. Die Tante kam dann in Kriegszeiten bei meiner Großmutter und ihren Kindern unter, um im Haushalt zu helfen.). Die fürstlichen Stuckdecken, die Tapeten, das Mobiliar, das Porzellan, die Gläser, das silberne Besteck, die Mahlzeiten aus der hochherrschaftlichen Küche waren ihr immer eine Rede wert, zumal sie damit ihre Besserstellung durchgehend zementieren konnte.
Auch die Brosamen, die die fürstlichen Besitzer und - innen, wenn sie denn einmal geruhten, an ihr vorbeizuschreiten, ihr zuwarfen, sei es ein Kopfnicken oder ein Guten Tag, wurden auf den Busfahrten eifrig erörtert. Irgendwann erreichte der Bus die Endstation, und Friede und ihre Gesprächspartner waren nun gezwungen, die kostbar ausgestatteten fürstlichen Gemächer gedanklich zu verlassen. Frühestens an der Endstation gab ich mich meiner Großtante zu erkennen. Ansonsten folgte ich ihr in großem Abstand, um sie dann überraschend in meinem Elternhaus zu begrüßen.
Abgeholt wurde sie nachmittags von meinem Großonkel Hans. Das Abholen bestand darin, dass meine Mutter den Kaffeetisch deckte und Kaffee und Kuchen oder Schnittchen auffuhr.
"Unter Hitler konnten die Frauen abends herausgehen." , sagte er. Er erwähnte auch hämisch jemandem, der ein 175er war. Der Onkel lobte meine Mutter für Kaffee und Kuchen. Manchmal erzählte er uns die Geschichte von dem abgeschnittenen Fingerglied, das bei der Fertigung seines Gesellenstückes draufgegangen war.
Friede lachte zu allen seinen Geschichten. Manchmal sagte sie: "Ach, Vatter, lass das doch!", und dann blieb sie ein paar Minuten ernst. Alles war gut. In der Abenddämmerung gingen sie beide untergehakt zur Bushaltestelle und fuhren zufrieden mit dem Bus nach Hause.
Anmerkung von blauefrau:
13.06.2019
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Gefällt mir ganz gut, leidet aber unter nicht wenigen Schlampigkeiten, da müsste man nochmals drübergehen. Außerdem ist ein Schaffner im Bus befremdlich, Schaffner gibt es eigentlich nur in Zügen ...