Irre

Skizze zum Thema Familie

von  blauefrau

Meine Tante H. war das, was man früher irre nannte. Sie legte sich mit 14 Jahren in ihr Bett und wollte nicht mehr aufstehen. Als Kind war sie immer schon komisch, sagte ihr Bruder, mein Vater.
Wir Nachgeborenen prüfen: Bevor sie sich in ihr Bett legte und dort liegenblieb, war sie auf dem Bauernhof eines Onkels. Auf dem Hof hielten sich auch Knechte auf. Konnte sie vergewaltigt worden sein?
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, sagte die Kusine, als ich sie auf einem Familientreffen befragte.
Die Tante wurde später in der Psychiatrie untergebracht. Ihr Vater, mein Großvater, holte sie nach Hause zurück, als er von den Euthanasieplänen erfuhr.
Ein Bild prägte sich mir ein: als meine Familie die Großeltern besuchte, schlug ihr beim Kämmen eine Tante die Haarbürste auf den Kopf.  Sie ist halt schwierig, sagten die Eltern. Man muss es mit ihr aushalten.
Ich schirmte mich gegen alle Eventualitäten ab. Sie war meine Gegenbild, die Tante. Ich wurde daran irre.

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Kommentare zu diesem Text


 Létranger (26.08.21)
Gut erzählt, mit einer schönen Portion Offenheit und Rätselhaftigkeit.

Gruß Lé.

 Regina (26.08.21)
die Tante jedenfalls fiel dem Familienmobbing zum Opfer. Was der Grund für ihr Verhalten war, hat anscheinend niemand versucht, herauszufinden.

 blauefrau meinte dazu am 26.08.21:
Später wurde sie, vollgedröhnt mit Medikamenten, in einem Altersheim untergebracht.
Agnete (66)
(26.08.21)
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 blauefrau antwortete darauf am 28.08.21:
Vermutlich hätte man der ganzen Familie helfen müssen....
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