Tante Ro

Skizze zum Thema Familie

von  blauefrau

Meine Tante Ro kam zu jeder Familienfeier. Der Hals meines Vaters schwoll bereits an, bevor sie den ersten Satz gesagt hatte, oft schon bevor sie das Haus betreten hatte. Nachdem sie die Sahnetorte meiner Mutter gelobt, sich über Kuchen - und Tortenrezepte ausgetauscht und die erste Tasse Kaffee getrunken hatte und Neffen und Nichten mit überschwenglichen Komplimenten bedacht hatte, kam sie  auf Themen wie die arbeitende Frau, den Kinderschutzbund, die SPD, die Gewerkschaft und weitere zunehmend sozialkritische Themen zu sprechen, die in meinem Vater grundsätzlich Widerspruch hervorriefen, den er aber nicht in deutlicher, klarer Weise äußern konnte. Zu sehr sah er sich durch die Zwänge der "Familie" daran gehindert.  Meine Tante wurde zusehends lebhafter, steigerte sich in eine sozialromantische Diskussion hinein und genoß gleichzeitig Sahnetorten, Plätzchen und den Kaffee. Außerdem rauchte sie ausführlich. Mein Vater räusperte sich.
Zwischendurch verschwand die Tante. Wenn ich von meiner Mutter gebeten wurde, in den Keller herabzusteigen und aus dem Speisekeller eine Dose, einen Topf oder eine Schale zu holen, sah ich, wie die Tante ungerührt im Speisekeller stand und mit einem großen Löffel den Eintopf meiner Mutter aufaß. Mir war das peinlich. Sie jedoch lächelte freundlich und kam erst nach einigen Viertelstunden aus dem Keller wieder hoch. Sie setzte die Unterhaltung dort fort, wo sie aufgehört hatte und lobte meine Mutter für die Qualität des Eintopfs. Nach dem Abendessen, bestehend aus Schnittchen und Salaten ging die Tante als eine der letzten. Mein Vater begann erst dann, sich in der Aufzählung verschiedener Stufen geistiger Erkrankungen zu ergehen und eine davon für meine Tante auszuwählen.

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Kommentare zu diesem Text

matwildast (37)
(25.03.17)
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bbx (68)
(26.03.17)
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 blauefrau meinte dazu am 26.03.17:
Die neue deutsche Rechtschreibung hält so manche Falle parat.
Mit d ist alles in Ordnung.

 AZU20 (26.03.17)
Solch eine Tante kannte ich auch. LG

 Borek (28.01.19)
Die Tante stammte noch aus einer anderen Generation:
höflich, Geistig beweglich, und die eigene Versorgung, die damals sehr wichtig war, nicht aus dem Auge zu verlieren. Eine schöne
Geschichte die Erinnerungen weckt. Herbert
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