Paul und Greta

Skizze zum Thema Familie

von  blauefrau

Greta nahm Paul auf den Arm, wechselte noch wenige Worte mit dem Autofahrer und trug das Kind nach Hause. Der Weg die Treppe hoch zur Wohnungstür gestaltete sich schwierig, da Greta Pauls Gewicht kaum noch hochhieven konnte. Paul quengelte, und Greta konzentrierte  sich auf jede einzelne Stufe, ihre Schrammen, die abgenutzte Farbe, den Staub[!], um nicht die Nerven zu verlieren. Pauls Kakao beruhigte ihn, ebenfalls ein paar bunte Pflaster, die sie ihm auf die Wange, das Knie und die Hand klebte, obwohl er nicht überall eine Schramme hatte. ,,Sollen wir in den Zoo gehen, Paul?", säuselte sie. ,, Jaaaa!", rief der Kleine, und Greta wurde klar, dass sie das letzte Mal mit ihrem Vater zusammen im Zoo gewesen war. Sie sah den Vater wieder vor sich, wie an die weiße  Wand gebeamt: seine hohen Wangenknochen, die abwesenden Augen, die breiten Schultern, den mageren Körper, die schlackernde Kleidung, die schlurfenden Füße.  Über vier Jahre war das jetzt her. Würde ihr Vater sie nie verlassen, obwohl er jetzt schon einige Monate tot war? Nach seinem Tod konnte sie besonders abends den Blick nicht vom Himmel abwenden. Mehrere parallel angeordnete weiße Wolken erschienen ihr wie Rippen, die sie dem Vater zuschrieb, Rippen, die gegrillt wurden. Dieses Dia zeigte der Himmel fast jeden Abend, und Greta musste angesichts des vermuteten Vorgangs weinen.

  Einmal forderte sie in einem stummen Gespräch den Vater auf, ihr ein Zeichen zu geben aus seiner anderen Welt, in der er sich jetzt befinden sollte. Kurze Zeit später sah sie ihn in der Nähe des Bahnhofs auf einem Bürogebäude sitzen:   
    überlebensgroß, in die Ferne starrend, sinnierend. Seine Beine waren abgeknickt wie bei einer Puppe. Er wirkte gepflegt, nicht gegrillt. Sein Gesicht hatte eine bräunliche Gesichtsfarbe, die farblich mit der Schminke übereinstimmte, die die Beerdigungsgehilfen dem Vater noch ins Gesicht gerieben hatten. Auch sein Mund schien so gestaltet, wie die Gehilfen es für passend hielten.

  Sie hörte den Vater eine Adresse murmeln, bei der er immer wieder die Hausnummer austauschte, als sei er sich nicht sicher oder als sei es eine Übung wie das Aufsagen von lateinischen Worten: puella puellae puellae puellam puella

  Werdes - Straße 12 , Werdes-Straße 16, Werdes-Straße 18.

  ,, Großer Gott, wir loben dich!", hörte sie auch noch, doch sie selbst war es, die sang. Sie hatte es immer gesungen zum Abschluß ihrer Liederreihe, der Vater wollte aber auch  ,, Allons enfants de la patrie!" hören. Doch: ,,Großer Gott ... " bildete den Gewölbehimmel über allem, damit begann und endete ihr Gesang.

Die Nachbarin klopfte. Sie hatte einen Teller mit Kuchen dabei: ,,Für Kleinen. Gutes Kind. Ich habe selbst gebacken  Kuchen!" Die eine Hand der Nachbarin hatte die Form eines Klumpens. Greta zuckte zusammen, legte dann ihre Hand auf deren Arm und Greta bedankte sich. ,,Paul!" , rief sie, ,,Schau mal, was ich hier habe!"  Paul lachte und griff sich ein Stück. Greta aß den Rest.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (26.10.14)
Ja, so wird man manche Erinnerungen nie los und staunt, was man alles so mit ihnen erleben kann. LG

 blauefrau meinte dazu am 26.10.14:
Hallo, Azu,

heute hast Du so ziemlich alles von mir kommentiert. Vielen Dank für Deine Mühe! Gruß die blauefrau
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