Der Morvan (Burgund) ist eine Landschaft vergleichbar mit Eifel oder Hunsrück, also eher karg und rauh. Wer da groß geworden ist in den 50er und 60er Jahren, als es noch lange und strenge Winter gab, der wurde sicher nicht verwöhnt, schon gar nicht, wenn er in einer Bauernfamilie aufwuchs.
Meine Nachbarin in Bonnard, Madeleine Pasquier, wurde genau vor 75 Jahren in eine solche hineingeboren, als älteste Tochter, gefolgt von einer zwei Jahre jüngeren Schwester und ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder.
Wir hatten sie zum Apéritif eingeladen, weil sie uns von ihrer üppigen Pflaumenernte abgegeben hatte. Apéritif - wer jetzt an Pernod denkt oder einen leckeren Kir – nicht bei Madeleine. Sie ist der Typ Frau, der mit einem Glas Wasser feiern kann – sie müsse auch später noch Auto fahren, wie sie entschuldigend vorgab.
Über diese asketische Haltung und Disziplin kamen wir schnell auf ihre Kindheit und Erziehung zu sprechen.
„Zu Hause hatten wir ein strenges Regiment,“ erinnerte sie sich. „da musste jeder spuren! Denn wir kamen gerade so über die Runden mit einem Dutzend Rindern, ein paar mickrigen Feldern und dem Garten.“
Sie seinen quasi Selbstversorger gewesen – Geld ausgeben, das war nicht, zumindest nicht, was die Küche und Ernährung anging.
Die Dorfschule, auf die sie und ihre Geschwister gehen mussten, lag zwei Kilometer weg - „wenn wir querfeldein gingen, konnten wir ein paar Hundert Meter abkürzen – wir gingen im Gänsemarsch zwischen den Ähren oder Kartoffel-Pflanzen hindurch, damit wir nichts unnötig zertraten.“
Schulbusse habe es für die Grundschule nicht gegeben. Nur, nachdem sie ab der sechsten Klasse aufs Collège im 25 Kilometer entfernten Autun ging, da habe diese Option bestanden – aber für ihre Familie zu teuer! Sie sei dort ins Internat gesteckt worden „ und nach Hause durfte ich nur alle 14 Tage.“
Trotzdem hätte ihr die Schule sehr viel Spaß gemacht, vor allem der Sprachunterricht, die Grammatik. Sie sei immer eine der Besten gewesen, „das war einfach normal, sonst hätte es zu Hause ordentlich gekracht!“
Da ihre kleine Schule nur winzige Klassen hatte, die von einem einzigen Lehrer – Monsieur Corneille – parallel unterricht wurden, dauerte die Grundschule für sie ein Jahr länger. „Das war in Frankreich so, weil die Schulaufsicht unterstellte, dass wir im Vergleich zu normalen Stadtschulen mit separaten Lehrern und Klassen viel langsamer gelernt hätten. Dabei habe ich immer schon mitgelernt, wenn Monsieur Corneille zur Gruppe der Älteren wechselte. Und als ich bei den Älteren war, haben wir auch sehr oft den Kleineren geholfen – so konnten wir den ganzen Stoff schon fast auswendig.“
Typisch für französische Schulen sei auch damals schon der Ganztagsbetrieb gewesen, das heißt: Alle Schulen hatten Kantinen, und da habe es bei ihr im Dorf immer eine Frau gegeben, die dort frisches Essen gekocht habe.
„Da das für uns zusätzlich Geld gekostet hätte, hat mein Vater die Kantine mit Kartoffeln und Gemüse versorgt, und so wurde diese Ausgabe vergolten.
Schlimm sei die Schule eigentlich nur im Winter gewesen. Da hätten sie morgens manchmal durch tiefen Schnee stapfen müssen. Oft seien dann Erwachsene vorne weg gegangen, um den Kleinen einen Weg zu bahnen.
„Wege von vier oder fünf Kilometern waren nie der Rede wert, und hier im Morvan sind das, wie ihr wisst, steinige Wege, es geht steil hoch und runter.“
Sonntags hätten sie stets zur Kirche gemusst. Das sei sozusagen eine gesellschaftliche Pflicht gewesen – entsprechend adrett mussten sie da auftreten.
„Wenn die Eltern wegen des Hofes mal nicht konnten, begleitete uns die Oma. Das war besonders anstrengend, nicht, weil die Probleme mit dem Gehen gehabt hätte – die fragte uns auf dem Nachhauseweg immer in aller Strenge ab, was der Curé gepredigt hatte. Und wehe, wir hatten nicht aufgepasst!“
Madeleine genehmigte sich ein zweites Glas Wasser. Sie war jetzt richtig in Fahrt gekommen – wir als Kinder der Großstadt konnten dem nicht viel entgegen setzen, wir lauschten, zumal unserer Besucherin noch weitere „Härten“ aus ihrer Jugendzeit aus der Erinnerung holte.
„Wisst ihr, wann bei meinen Eltern fließend Wasser installiert wurde? 1963! Und wisst ihr, wann in deren Haus ein Badezimmer dazukam? Als mein Mann in den Ferien beschloss, dort eines einzubauen: 1981. Vier Wochen Urlaub auf dem Bauernhof waren das für ihn. Aber vorher war für diesen Luxus einfach kein Geld da gewesen. Wir hatten uns immer mit dem Waschlappen gewaschen, kalt !“
Madeleine konnte sich dann nicht verkneifen, ein bisschen gegen die heutigen „Warmduscher“ zu sticheln.
„Jetzt bibbern sie schon vorauseilend, weil sie ihre Wohnung nicht auf 22 Grad hochheizen sollen.. Bei uns war immer nur die Küche warm. Bis heute heize ich mein Schlafzimmer nur, wenn es mal extrem kalt wird. Ansonsten reichen mir 18, 19 Grad. Aber ich sitze auch nicht im T-shirt herum und laufe in meiner Wohnung barfuß.“
Insofern, so schloss Madeleine, habe sie eine gute Jugend gehabt, eine gute Vorbereitung fürs Leben. „Es waren klare Verhältnisse, es gab auch Strenge und Druck, aber das waren keine Launen unserer Eltern – die mussten ja genauso hart ran.!
„Was man deinen Eltern im kalten Morvan in eurem verlorenen Nest zugute halten muss,“ entgegegnete ich, um eine Art Fazit aus Madeleines Schilderungen zu ziehen, „das ist ja wohl die Tatsache, dass ihr zwei Mädchen studieren durftet und beide einen tollen Beruf ergreifen konntet!“
„Eigentlich den Beruf, der sehr gut zu uns passte,“ fügte Madeleine lachend an.
„Lehrerin!“