Überzeugungstäter - gibt es die noch?

Text zum Thema Idee(n)

von  eiskimo

Früher identifizierte man sich mit seinem Wohnort, der Straße oder der Schule seiner Kinder. Viele auch mit Sportverein, Kirche, Gewerkschaft – und diejenigen, die eins hatten, identifizierten sich sogar mit ihrem Auto.

„Ente“ zu fahren und n i c h t  VW-Käfer, das war eine Weltanschauung. Wer einen Volvo sein eigen nannte, wollte sich sehr bewusst vom dicken Mercedes-Fahrer abheben – und ein jeder kannte natürlich die Botschaft, die er damit öffentlich und offensiv vor seiner Haustür parkte. Fast ein bisschen Klassenkampf.

Heute, wo Autos kein Gesicht mehr haben, wo wesentliche Bauteile vom selben No-Name-Hersteller sind, und baugleiche Roboter in einem Billiglohn-Land jedes x-beliebige Modell zusammenschustern, sind Markenzeichen wie Citroën, Datsun, Opel oder Simca nur noch nostalgische Erinnerungen. Und die modernen Allerweltautos können Lebenshaltungen oder ein bestimmtes Bekenntnis nicht mehr transportiern.

Es ist egal geworden, was man fährt – mal von ganz exklusiven und kaum bezahlbaren Fahrzeugen abgesehen.

Problematisch ist, dass dieses „es ist egal“ auch das politische Leben infiziert hat.

Früher, zu Zeiten, als ein Renault R4 oder der Ford Capri ein Bekenntnis waren, kannten die Leute auch noch das Profil der von ihnen gewählten Partei. Ministernamen und -gesichter waren bekannt. Man wusste auch, warum man in einer parlamentarischen Demokratie leben wollte und nicht in einer Volksrepublik. Wer für was stand in der Gesellschaft und wer welche Politik vorantreiben wollte, war klar – trotz spärlicherer Medienpräsenz.

Lag es am wacheren Interesse? Daran, dass die Menschen sich tatsächlich noch über Politik austauschten, auch in den Familien, beim gemeinsamen Sonntagskaffee?

Heute laufen Auto wie Politik so nebenbei mit. Beides gehört zur Grundausstattung. Das Auto hat man einfach, man ist damit groß geworden. Viel Pflege braucht es ja nicht. Und die Politik „da oben“, die ist im Grunde noch weiter weg. Da muss man erst recht nichts beitragen. Kennen tut man auch kaum einen. Und hören die sich nicht alle gleich an?

Egal. Irgendwie läuft es ja. Braucht es da noch Überzeugungen? Nicht wirklich.






Anmerkung von eiskimo:

Ich weiß: Texte, die mit "Früher...." beginnen, haben etwas Ewig-Gestriges...

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (17.08.24, 13:42)
Als Laie vermute ich, daß sich die Unterschiede von den Automarken auf die Autotypen verlagert haben: vom Kleinstwagen (Smart) über das E-Auto bis hin zum SUV.

Was die Politiker angeht, so kann man, meine ich, Alice Weidel ganz gut von Annalena Baerbock und Markus Söder von Olaf Scholz unterscheiden. Das sind sehr verschiedene Poltikertypen.

Und ob die Leute, die in unserer Jugend "Ho, Ho, Ho-Tschi-Minh" skandiert haben, wußten, warum 'man' in einer parlamentarischen Demokratie statt in einer Volksrepublik leben wollte?

Ich nehme an, daß wir alten Leute in der Versuchung stehen, nach dem Verschwinden der uns bekannten, alten Unterschiede das Neue nur noch nivelliert wahrzunehmen. Sehr gut zu beobachten an der Gegenüberstellung von Musik einst (Schlager- und Rockmusik, deutsche und angelsächsische Musik, Folk und Chanson - das war doch relativ simpel) und heute (eine für uns ganz unübersichtliche Vielfalt von Stilen) - für uns "Krach", was jedoch keine zureichende Beschreibung ist.

 Graeculus meinte dazu am 17.08.24 um 13:53:
Ich bemerke, was der typische Blick alter Leute ist, und sperre mich dagegen. Nicht weil ich leugne, zu den Alten zu gehören, sondern weil die Jugend nicht schlechter ist, als wir es waren, und weil sie ein Recht hat, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Bewegung "Fridays for Future", so fremd sie mir ist, besteht doch sicher aus Überzeugungstätern!

Come mothers and fathers
Throughout the land
And don’t criticize
What you can’t understand
Your sons and your daughters
Are beyond your command
Your old road is
Rapidly agin’.
Please get out of the new one
If you can’t lend your hand
For the times they are a-changin’.

Das hat unser Idol seinerzeit den Alten vorgehalten, und nun, selber alt, verdienen wir es, daß die Jugend uns dies zuruft.

 eiskimo antwortete darauf am 17.08.24 um 14:12:
Danke für die ausführliche Gegenrede. Was Du anführst, ist richtig. Auch Bob Dylan mag ich nicht widersprechen. Generell sehe ich dennoch einen Trend hin zum Unverbindlichen, rasch Austauschbaren.

 Saira (17.08.24, 14:07)
Moin Eiskimo,
 
ich denke, wir leben in einer schnelllebigen Zeit, in der wir starken Einflüssen unterliegen. Die digitale Welt nimmt immer mehr Raum ein. Die Medien werden von Politik und Wirtschaft gesteuert.
 
M.E. neigen Menschen verstärkt dazu, sich in Extremen zu bewegen. Sie laufen Trends hinterher, hinterfragen zu wenig.
 
Diejenigen, die sich mit den Einflüssen in Umwelt und Politik sowie der Medieninformationen kritisch auseinandersetzen, werden weniger, fürchte ich.
 
Liebe Grüße
Sigi

 eiskimo schrieb daraufhin am 17.08.24 um 14:14:
Ja, das Schnellllebige scheint mir diese Unlust sich zu binden, zu verstärken.
LG

 EkkehartMittelberg (17.08.24, 18:35)
Hallo Eiskimo,

in unserer Egalokratie haftet Überzeugungstätern etwas Lächerliches an. 
Man findet sie zuhauf in der AFD. Aber je weniger man bereit ist, sich mit ihnen sachlich auseinanderzusetzen, desto mehr verhärten sich ihre Überzeugungen und sie vermehren sich.

LG
Ekki

Kommentar geändert am 17.08.2024 um 19:49 Uhr

 eiskimo äußerte darauf am 17.08.24 um 21:18:
Ein sehr passender Ausdruck - die Egalokratie. Und dass Bekenntnisse (oder Kampfaufrufe) jetzt eher aus der rechte  Ecke kommen, da würde ich Dir, lieber Ekki, auch zustimmen....
Immerhin sind zuletzt doch ein paar mehr wach geworden und haben Flagge gezeigt.
LG
Eiskimo

 Quoth ergänzte dazu am 18.08.24 um 10:00:
In der Technik gibt es den Begriff "Ermüdungsbruch". Er lässt sich auch auf die Demokratie anwenden, fürchte ich.

 eiskimo meinte dazu am 18.08.24 um 17:11:
Deine Furcht ist berechtigt. Ein Aufbauprogramm für die umgebenden Muskelgruppen wäre hilfreich. 
Kostet allerdings Mühen.
LG

 Regina (18.08.24, 10:10)
Aber frage dich doch einmal, was die ganze Überzeugungstäterei gebracht hat. Hat das Ente oder Volvo fahren die Welt verändert? die Antwort heißt doch eher, es ist alles noch schlimmer geworden.
Da ist es einem wurscht, welches Einheitsauto man fährt. Beinahe gleichgültig erscheint es auch, welche Partei man wählt, wenn es keine wirkliche Opposition mehr gibt, außer der ganz Extremen.

 eiskimo meinte dazu am 18.08.24 um 10:40:
Was Du am Ende sagst, liebe Regina, ist genau meine Rede.
Ob Ente-Fahren die Welt verändert hat?  Meine jedenfalls sehr nachhaltig Und nur meine kann ich ja wirklich ein bisschen gestalten.

 Soshura (18.08.24, 23:30)
"Ich weiß: Texte, die mit "Früher...." beginnen, haben etwas Ewig-Gestriges..."

ich weiß das nicht. ebensowenig, als dass Macht die Beeinflussung der Interpretationsfähigkeit von Symbolen begleitet. Deutungsunabhängig, wer weiß schon, was unkontrollierbar sich spiegelt.

 ginTon (19.08.24, 22:00)
heute werden keine Enten mehr gefahren, aber sitzen gefühlt lauter Enten und Ganter hinterm Steuer :D
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