Die karmische Vision

Essay zum Thema Magie

von  LotharAtzert

"Es ist nicht so schwierig, durch Erfahrung zur Nicht-Dualität zu gelangen. Aber es ist schwierig, den Zustand der Nicht-Dualität in unsere karmische Vision zu integrieren."
Chögyal Namkhai Norbu, "Spiegel des Bewußtseins" Diederichs gelbe Reihe.

Die karmische Vision: an die Wortwahl gewöhnt sich der Westen nur langsam, daß nämlich alles Erscheinung von Lichtwesen ist, von denen sich unser Körper, die Rede und der Geist durch Assimilation ernähren.
Vom Integrieren ist die Rede des Dzogchenmeisters aus Tibet. Genauer: vom Integrieren der Nicht-Dualität in die karmische Vision.

Was ist nun eine karmische Vision? Rinpoche, der lange in Neapel lebte, gibt ein drastisches Beispiel: "Wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben, liebkosen sie sich zu Beginn und dann endet es vielleicht mit Messerstechereien."
Erstechen ist eine Manifestation von Wut und Haß; Liebkosen eine Manifestation von Anhaftung. Beides ist in dem genannten Fall untrennbar miteinander verbunden. Gier, Hass,  Unwissenheit, sowie Eifersucht, Stolz usw. erscheinen zwar zeitlich meistens getrennt, sind aber karmisch Früchte grundlegender dualer Unwissenheit.

Daß wir nicht unmittelbar "die Wiklichkeit" sehen, sondern nur, was unserer Art entspricht, eben der karmischen Vision, macht ein weiteres Beispiel deutlich. Sechs Wesen treffen an einem Fluß aufeinander:
Für den Menschen erscheint das Wasser klar, frisch, zum Baden und Trinken einladend. Für den Fisch ist es sogar ein geeignete Ort zum leben. Der frustrierte Hungergeist fühlt sich jedoch existentiell bedroht, das Fließen macht ihm Angst; für die Götter ist Wasser dagegen reines Nektar, doch für ihre Feinde, die Titanen, bietet es die Möglichkeit, eine todbringende Waffe daraus herzustellen. Kurz: die jeweilige Vision hängt vom in der Vergangenheit erwirkten Karma ab.

Die Integration des Nicht-Dualen in die duale karmische Vision oder "Vorstellungsgebundenheit", wie wir sagen, ist Voraussetzung für Erleuchtung, welche von Natur aus leer und klar ist.
Ja, das ist schwer vom Verstand zu erfassen, daß wie beim Wasser, bei Feuer, Erde, Luft und Wind wieder alle Wesen jeweils Verschiedenes "wahrnehmen" - dem einen dünkt es wunderbar, dem andern ist 's Katastrophe. Doch leer und klar, auch frei von einem Selbst, sind alle Elemente, einschließlich des Raums.
Nicht-dual ist der Urgrund.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (15.10.20)
Lieber Lothar,

das hast du klar und verständlich formuliert. Erhellend und traurig zugleich.
Demnach sollte sich der Mensch auch vor der angewandten Liebe fernhalten, um nicht anzuhaften? "Leer und klar" als Zielvorstellung leuchtet mir ein, bedeutet aber wohl auch den absoluten Verzicht auf das, was uns l(i)ebenswert erscheint ...

Herzliche und dankende Grüße
der8.

 LotharAtzert meinte dazu am 15.10.20:
Nicht ganz, lieber 8. Zwerg, nicht ganz.
Es gibt sogar einen Buddha des Lichts und der Liebe: Amitabha. Als Emanation von ihm galt Shamarpa. Ich hatte das große Vergnügen, Seine Eminenz von Köln nach Frankfurt in unsere WG zu fahren, wo er zwei Tage wohnte, um Belehrungen zu geben.
Der war sowas von direkt, so daß ich noch heute vermute, er war wohl eine Widdersonne. Irgendwo, etwa in Höhe von Königstein, sagte er zu mir, daß er mich kenne. Ich war so überrascht, daß ich das Steuer verriß und fast einen Unfall gebaut hätte, knallrot anlief und mich anschließend nicht mehr getraute, ihn zu fragen, woher, aus welcher Zeit usw. Das bereue ich bis heute. Es gab dann noch einige lustige Begebenheiten mit ihm.

Die Liebe zu allen Geschöpfen ist ja dem Licht analog - es scheint für alle gleich.. Das verhindert aber nicht, daß man mit einem von ihnen sein Leben verbringt. Es darf nur nicht egozentrisch werden, denn das hieße, daß man andere ausschließt.
Dem (zwanghaft) zu entsagen, wäre auch wieder eine duale Ego-Haltung. Nein, mach dir nicht so viel Gedanken darüber, was man sollte und nicht sollte. Liebe, wen du lieben kannst!

Ich freue mich übrigens sehr, daß dir der Text gefällt und bedanke mich recht herzlich zurück grüßend.
Lothar

Antwort geändert am 15.10.2020 um 10:52 Uhr
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