Leute, schreibt biographisch! - Ich möchte nichts Gedichtetes oder Erzähltes mehr lesen

Aufruf zum Thema Literatur

von  toltec-head

Ich zappe mich durchs Fernsehprogramm. Meist bleib ich bei irgendwelchen Reportagen oder eben Nachrichtensendungen hängen. Bei Filmischem oder sonstwie Erzähltem halt ich´s keine 5 Sekunden aus. Ich empfinde sofort den Ton als "falsch", also vor allem den Dialog-Ton. Ich merke: Ich soll etwas erzählt bekommen. Dann frag ich mich, ob ich in diesem Moment wirklich etwas erzählt bekommen will, stelle sofort fest, dass dies nicht der Fall ist - und zappe weg. Natürlich ist der "Ton" von Reportagen und Nachrichtensendungen auch ein Problem. Für mich stellt er aber ein "echtes" Problem da, von dem ich vage spüre, dass sich eine Auseinandersetzung lohnen könnte. "Geschichten", irgendwie "Filmisch Gedichtetes" sind wie Nebelkerzen. Sie schläfern ein und rauben uns im Schlaf dann auch noch die Träume. Ich fühle mich von ihnen vergiftet.

Bei der Literatur ist es genauso. Wenn mir jemand was erzählen oder "dichten" will, wink ich sofort ab. Ich bin nur an dem harten Kern der Existenz interessiert. Jemand hat ein kleines, beschissenes Leben: gut, O.K., wir alle haben  kleine, beschissene Leben. Wie für Reportagen und Nachrichtensendungen interessiere ich mich dann für das kleine, beschissene Leben dieses Jemand. Und ich möchte die Scheiße gerne nackt, ohne Drumherum, ohne erfundene Figuren und Dialoge und sonstigem Brimborium.

Ich interessiere mich dafür, wie es andere schaffen zu überleben. Körperlich und geistig. Wer erzählt oder dichtet, tut so, als hätte er diese beiden Probleme für sich bereits gelöst. Das interessiert mich dann nicht, weil ich glaube, dass es falsch ist. Und dann zu diesem falschen Ton von Erzähltem oder Gedichtetem führt. Bei Erzähltem spüre ich diesen falschen Ton zum Beispiel in Sekundenschnelle bei Dialog-Szenen oder wenn mir ein fiktiver Name aufgetischt wird. Ob ihrer sprechenden fiktiven Namen ("Frau Löffelstiel" und so ein Scheiß) ist mir die deutsche erzählende Literatur ein besonderes Gräuel.

Ich glaube, die Menschen hatten früher auch kleine, beschissene Leben. Aber sie waren wie Kinder. Sie ließen sich gerne mit Erzähltem und Gedichtetem einschläfern und über den harten Kern der Existenz hinwegtäuschen. Wir sind heute ein klein wenig Erwachsener geworden und die Ablenkmanöver dessen, was unter "schöner Literatur" so läuft, fadenscheinig.

Leser: Du kleiner, dreckiger Parasit! Du wagst es zu leben? Gut. Erzähl mir bitte davon, wie du es dabei anstellst, im nächsten Moment nicht vor Scham im Boden zu versinken. Wie kommst du über den Tag und vor allem: Wie kommst du über die Nacht? Und: Wie ist der Geschmack deiner Mundhöhle, wenn du morgens aufwachst?

Es sprach ein kleiner, dreckiger Parasit:

"Ich glaube der tiefste Sinn von dem, was man mit Gentleman bezeichnet, ist das, dass man besser und vornehmer ist, als das Leben. Das Leben ist für uns alle unsagbar schwer, tückisch und grenzenlos übelwollend: Im Ertragen liegt alles Schöne und Wertvolle. Und ein bissel was nützt es einem vielleicht, dass man andere hat, die einem beim Ertragen zuschauen und gut genug sind, das Schwere zu verstehen, und deren Teilnahme einen Sinn hat." (Hugo von Hofmannsthal/Edgar Karg von Bebenburg, Briefwechsel, Frankfurt/Main 1966, 52)

Leute, hört mit dem Erzählen und Dichten auf. Niemand interessiert sich heute mehr für Schriftsteller und wie sie sich und anderen etwas vormachen. Den harten Kern der Existenz, den wollen wir spüren. Kleine, dreckige, parasitäre Gentlemen, das wollen wir sein.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

ChrisJ. (44)
(21.07.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 toltec-head meinte dazu am 21.07.13:
Ich les deine Bio-Fetzen immer gern. Am Internet mag ich, dass man den Geruch aus den Mundhöhlen nicht mitbekommt.

 Lluviagata antwortete darauf am 21.07.13:
Oh ja! Ich auch. :/
ChrisJ. (44) schrieb daraufhin am 21.07.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 SapphoSonne (21.07.13)
Oft lässt sich viel über den Autor und sein Leben herauslesen, auch in den erfundenen Geschichten. Träume, Ängste, Sehnsüchte und Konflikte, alles findet sich in den Worten wieder.
Aber du hast recht, wir wollen etwas erfahren, eintauchen in das Leben anderer, uns durch sie von uns selbst ablenken. Oder sind wir einfach nur neugierig?
Gefällt mir dein Text sehr, regt zum Nachdenken an.
LG Sappho
(Kommentar korrigiert am 21.07.2013)

 Lluviagata (21.07.13)
Ach! ;)

Liebe Grüße
Llu ♥

 Lluviagata äußerte darauf am 21.07.13:
PS: Jedem Tierchen sein Pläsierchen.

 Dieter Wal (21.07.13)
Endlich ein Aufruf, der von Fliegenpilzen verlangt, ihre äußeren Fruchtkörper sollen rot sein und weiße Punkte haben.

Wenn ich von Dingen schreibe, die wenig direkt mit mir zu tun haben, haben sie indirekt viel mit mir zu tun.
(Kommentar korrigiert am 21.07.2013)

 EkkehartMittelberg (21.07.13)
Ach, das ist so herrlich intellektuell und alles Intellektuelle ist herrlich relativ.

 TassoTuwas (21.07.13)
Du hast also ein kleines beschissenes Leben??
Und ich dachte das hat man in Ruanda, wo Kinder barfuß zehn Kilomater laufen um dreckiges Wasser zu holen oder in Somalia, wo marodierende Truppen plünern und vergewaltigen, oder in Banledesch wo..., oder in Kolumbien.., oder...
Du tust mir Leid für dein beschissenes Leben, dass dadurch noch armseliger wird in dem du dir die verkackten, wichtigtuerischen Kotzgeschichten irgendwelcher C-Promis reinziehst. Die neue Weltliteratur im Stile der Geissens und Katzenbergers läßt grüßen.
Schon mal was von John Steinbeck gelesen oder Fallada?

 Songline ergänzte dazu am 21.07.13:
Mit dem falschen Fuß aufgestanden?
janna (66) meinte dazu am 21.07.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Songline (21.07.13)
Der harte Kern meiner Existenz liegt spärlich bekleidet mit dem Laptop auf der Couch, liest toltec und fühlt sich prismatisiert. Mein Leben gehört mir! So!
:-)

 Dieter Wal meinte dazu am 21.07.13:
:)))
michaelkoehn (76)
(21.07.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Nachtpoet (21.07.13)
Autobiografische Texte sind immer die Stärksten! Alles andere ist eher Stilübung oder Spielerei. LG Ralf
M.E.Perkampus (44)
(21.07.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Fuchsiberlin (21.07.13)
Ich glaube, es schreiben viel mehr Autoren biografisch als man denkt, oder sie es je zugeben würden...

Liebe Grüße
Jörg

 susidie (21.07.13)
Hol mir jetzt den Strick aus dem Keller. Daran baumelt dann mein herrliches großes Leben bis zum letzten luftigen Schnapper. Und dann schreib ich über das kleine beschissene, wenn mir noch danach ist, weil eh keiner zuhört, oder doch?
Gringo (60)
(01.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Alias (06.12.13)
klar doch, lasst voyeure um uns sein... im prinzip hast du ja recht, aber die ungeschminkte wahrheit ist manchmal zu heftig, also muss sie kleinen dosen serviert werden. man nennt das romane oder geschichten.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram