Meine Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkriegs ah Herbst 1944

Bericht zum Thema Krieg/Krieger

von  EkkehartMittelberg

Bombenangriffe


Im Herbst 1944 bewohnten meine Mutter und ihre zwei Söhne ein geräumiges Haus. Wir hatten mehr als genug Platz für uns. So war es nur gerecht, dass ein Bergmann und seine Frau bei uns einquartiert wurden. Was war passiert? Hamm in Westfalen hatte damals den größten Rangierbahnhof in Europa und so häuften sich die Bombenangriffe der Alliierten auf diese Stadt.

Der Bergmann besaß unweit von unserem ein kleines Häuschen. Er war während des Bombenangriffs unter Tage. Da die Angriffe in immer kürzeren Zeitabständen erfolgten, war es seiner Frau nicht mehr gelungen, mit ihren vier Kindern in einen Luftschutzkeller zu fliehen. Als die Bombe fiel, war sie gerade in ein Nebenzimmer ihres Hauses gegangen und die vier Kinder befanden sich in der Küche. Die Mutter überlebte unverletzt und alle vier Kinder waren auf einen Schlag tot.

Wir haben uns oft gefragt, warum die Mutter den Verstand nicht verloren hat. Sie war sehr religiös und fand Trost in der Bibel, in der sie täglich las. Ihr Glaube gab ihr solche Kraft, dass sie nach einigen Jahren wieder lachen konnte und uns drei Geschwister (1945 wurde meine Schwester geboren) wie eine zweite Mutter umsorgte.


Während der Bombenangriffe hatten wir eine Haushaltshilfe namens Maria, die Tochter eines Bergmanns. Meine Mutter stellte ihr frei, vor den Angriffen ins sichere Bergwerk einzufahren, (ein Privileg für die Familien von Bergleuten), wenn rechtzeitiger Fliegeralarm dies ermöglichte.

Aber Maria hing so an uns Kindern, dass sie mit uns in den unsicheren sog. Luftschutzkeller unseres Hauses ging. Das war ein großer Trost für meinen Bruder und mich, denn die Fliegerangriffe auf das Zentrum von Hamm waren so massiv, dass unser 7 km entferntes Haus in den Grundfesten bebte und die Wände wackelten. Ich verstand nichts von Statik und habe mich immer gewundert, dass das Haus nicht in sich zusammenfiel. Ich habe Maria als angstfrei und mit einem Lächeln während der Todesgefahr in Erinnerung, das sie sicherlich für uns Kinder aufsetzte. Dass sie tatsächlich ohne Furcht war, kann ich mir nicht vorstellen, denn die Bombardierungen waren zu heftig.


Das Verschwinden eines geliebten Menschen


Die Vorgängerin von Maria Irmtraud war mit einem Juden namens Engel verlobt. Dass er jüdisch war, wurde in unserer Familie nicht thematisiert. Ohne diesen Begriff zu kennen, empfand ich Engel als sehr charmant. Er hatte mein Kinderherz durch seine Liebenswürdigkeit und durch kleine Geschenke in Form von Süßigkeiten, Buntstiften und Malbüchern gewonnen. Eines Tages war er verschwunden und meine Nachfragen stießen bei den Erwachsenen auf trauriges betretenes Schweigen. Es hat lange gedauert, bis ich mit meiner Mutter darüber sprechen konnte, denn aus dem traurigen Schweigen war ein schamhaftes geworden.


Kinderspiele


Das beliebteste Spiel der Jungen war auch während des Krieges Fußball. Wir spielten mit alten Tennisbällen, die von ihren Besitzern wie Kleinodien behandelt wurden. Aber es gab noch zwei andere ebenfalls sehr beliebte Spiele, die unmittelbar mit dem Krieg zusammenhingen. Das eine hieß „Deutschland erklärt Russland/England/ Amerika den Krieg". Zwei Jungen ritzten mit Taschenmessern ein Quadrat in erdigen Boden, das sie in zwei Rechtecke teilten. Wenn es gelang, das Taschenmesser in dem Rechteck des "Feindes" zum Stehen zu bringen, durfte der Werfer auf der Höhe des Messers diesem mit einer geraden Linie ein Stück erobertes Land abnehmen. Eroberung war also Ziel des Kriegs.


Das andere gefährliche Spiel war das Einsammeln sog. Silberstreifen von unterschiedlicher Länge und Breite aus silbrig glänzendem Staniol, die die alliierten Bomber abwarfen, um die Abwehraktionen der deutschen Flugabwehr (FLAK) zu irritieren. Diese Streifen waren für uns Kinder verführerisch leuchtende Schätze, mit denen wir einen schwunghaften Tauschhandel betrieben. Wir verbargen das vor unseren Eltern, denn es gab glaubwürdige Berichte, dass Tiefflieger der Alliierten auf Zivilisten und sogar auf Kinder schossen. Wir hatten Glück. Es ist nie etwas passiert. Ein Freund von mir mit seiner Mutter hat als Kind nur mit Glück einen Angriff von Tieffliegern überlebt.





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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (31.03.22, 08:18)
Lieber Ekki,

danke dafür, dass du diese wichtigen Erinnerungen mit uns teilst. Meine Dresdner Großmutter verlor ihren Mann in Russland und nahm nach dem Bombenangriff auf Dresden trotz Hungersnot ein Waisenkind auf. Bald gibt es keine Zeitzeugen dieses Krieges mehr, um so wichtiger ist es daher, diese Erinnerungen zu pflegen und zu verwahren. Und Parallelen wird es immer geben, meine ich. Leider. 

Liebe Grüße
Llu ♥

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 10:29:
Hallo Llu, vielen Dank für den Austausch. Die schlimmsten Statistiken führen das Grauen des Krieges nicht so eindringlich vor Augen wie die Schilderung persönlicher Erlebnisse.
Liebe Grüße
Ekki
IsoldeEhrlich (12)
(31.03.22, 09:25)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 31.03.22 um 10:40:
Oh ja, Isolde, ich stimme dir aus tiefstem Herzen zu, dass zwei Generationen in Mitteleuropa dankbar sein müssen für so viele friedliche Jahre.
Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (31.03.22, 09:29)
berührender rückblick, ekki, gerne gelesen!

...was wohl die kinder heute einst erzählen
denen kriege oft ihre kindheit stehlen?!...


lg
henning

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 31.03.22 um 10:49:
Ach Henning, ich hätte es nach den glaubwürdigen Beteuerungen nahezu aller Erwachsenen 1945 "Nie wieder Krieg!" für unmöglich gehalten, dass sich das wiederholt.
So werde ich in hohem Alter noch zum Pessimisten.
LG
Ekki

Antwort geändert am 31.03.2022 um 11:05 Uhr
Taina (39)
(31.03.22, 09:41)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 31.03.22 um 11:02:
Danke Taina, für mich persönlich gab es etwas noch Schlimmeres als die Bombenangriffe, nämlich den massiven Faschismus in den Nachkriegsjahren im engsten Umfeld. Im Deutschunterricht meiner Schule Versuche zur Aufklärung der nationalsozialistischen Vergangenheit und dann außerhalb der Schule, auch zuhause, immer wieder ihre Glorifizierung.
Taina (39) ergänzte dazu am 31.03.22 um 12:15:
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 AchterZwerg meinte dazu am 31.03.22 um 17:04:
Schön wärs! :(

 alter79 (31.03.22, 09:51)
Guter Text. Wichtiger Text!
"Als ich verschüttet wurde (1945 in Berlin)) war ich zu *klein für die 'gelebte' Erinnerung. Es blieb der Kopf. 
Als ich von einem engl. Jagdflieger auf freiem Feld beschossen wurde, lag ich im Kinderwagen. Meine Mutter beschützte mich mit ihrem Körper. Als ich beim Hamsternfahren von einem Russen als Geisel genommen wurde, machte mir sein Schuss an meinem Ohr vorbei Angst. 
Als ich in einem GPU- Keller - nach einer Hamstefahrt - gefangen gehalten wurde, wurde meine Mutter neben mir von Russen vergewaltigt. 
Wenn ich in meinem Kopf dazu nachsuche, entdecke ich mich u.a. selber..."

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 11:14:
Gracias, alter79, diese Erinnerungen kriegt man nicht aus dem Kopf. Für mich ist noch heute unfassbar, dass alliierte Jagdflieger auf freiem Feld Zivilisten beschossen. Das ist durch die beste Propaganda nicht zu rechtfertigen.

 RainerMScholz meinte dazu am 01.04.22 um 23:25:
@alter79: Ich wundere mich ob deiner Erinnerung, weil du in deinem Text "er + ich *1942 haben (schon) genug gehungert und gefroren" die deutsche Metalband Sodom erwähnst, die du dann mit ungefähr 45 Jahren entdeckt haben musst, was nicht unmöglich, aber ungewöhnlich wäre, auch wegen der musikalischen Hörgewohnheiten in diesen Jahrgängen.
Bist du sicher, dass du mit deinem Pseudonym nicht Jahrgang `79 meinst und die oben erwähnten Erinnerungen so nicht stimmen können, ohne dir nahetreten zu wollen?
Grüße,
R.
Agnete (66)
(31.03.22, 10:06)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 12:40:
Ich stimme dir unbedingt zu, Agnete. Ich hoffe, dass wir ein Gespür dafür haben, dass wir jüngere Generationen mit dem Thema nicht überstrapazieren.
LG
Ekki

 AZU20 (31.03.22, 10:11)
Wir wurden sehr früh ins Oldenburgische evakuiert. Dort war Ruhe. Dein Text erinnert mich dennoch an so manches. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 12:46:
Danke, Armin, ich erinnere mich auch noch lebhaft an diese Evakuierungen zu meinen bäuerlichen Verwandten nach Niedersachsen. Sie waren die Vorhut der kurz darauf anrollenden Flüchtlingswelle.
Teolein (70)
(31.03.22, 10:28)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 12:54:
Hallo Teolein, du hast zu den Privilegierten gehört, weil deine Eltern etwas erzählt haben.
Mein Vater hat bis zu seinem Tode über seine persönlichen Erfahrungen geschwiegen. Vielleicht hatte er einen besonderen Grund, denn er war für Propaganda zuständig.

 plotzn (31.03.22, 12:28)
Servus Ekki,

bewegende Geschichten, die ohne Pathos und dank nüchterner Erzählweise ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn ich das lese, bin ich umso dankbarer, dass ich behütet und in Frieden aufwachsen durfte.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 13:01:
Merci. Ja, Stefan, dazu hast du allen Grund. Ich habe Erinnerungen, über die ich hier nicht schreibe, die nicht vernarben wollen.
Liebe Grüße
Ekki

 GastIltis (31.03.22, 14:08)
Hallo Ekki,
 
jeder Krieg wurde und wird von unsagbarem Leid, Grauen und Unheil begleitet. Meist waren wir, also Deutschland, entweder mitten drin oder die Hauptverursacher. Und wir können uns einreihen in die Phalanx derer, die mit für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich waren. Unsere Bemühungen für den Frieden als Staat, als Gemeinwesen mit selbst schlimmsten Gräueltaten sind dagegen leider überschaubar. Frieden heißt nicht Pazifismus. Frieden heißt auch nicht Unparteilichkeit. Frieden hieße für mich ein echtes Bemühen. Wo ist es, lieber Ekki? Ich frage dich als einen der reifsten, erfahrensten, klügsten User hier im Forum. Wo ist es, das echte, ehrliche Bemühen um Frieden?



Sei herzlich gegrüßt von Gil.

Kommentar geändert am 31.03.2022 um 14:12 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 15:31:
Lieber Gil, man könnte fragen, ob nicht die Frage nach dem ehrlichen Bemühen um Frieden im politischen Raum rhetorisch ist. Ich denke nein und beantworte sie so: Bei der Mehrheit der meisten Völker ist dieses Bemühen vorhanden. Einige verblendete Politiker werden es für sich in Anspruch nehmen, aber nicht glaubhaft.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (31.03.22, 14:16)
Hallo Ekki,
einige Erinnerungen an die letzten Kriegstage kamen mir, als ich in einem Verstaubten Karton einen Zettel fand, eine amtliche Bescheinigung, dass ich 46 im Übergangslager Herleshausen erfolgreich entlaust worden bin.
Wer kann sowas schon vorweisen?
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 15:40:
Gracias, Tasso, wenn man Kriegsgelüste entlausen könnte, möchte man Putin und ein paar andere gerne desinfizieren. Aber die Bescheinigung "erfolgreich" ist sicherlich für den Schredder.
Herzliche Grüße

Ekki

 AchterZwerg (31.03.22, 17:12)
Grüß dich, Ekki,
ich selber bin erst nach dem Krieg auf die Welt gekommen und im zerstörten Berlin aufgewachsen.
Meine Eltern haben über die Vorkommnisse im 3. Reich weitgehend geschwiegen - und meine Großeltern erst recht.
Wir Kinder mochten die Trümmergrundstücke, haben gern darin gespielt und uns aus herumliegendem Metall und den Steinen Häuser gebaut.
Für einige von uns allerdings mit tödlichen Folgen ...

Liebe Grüße
Piccola

Kommentar geändert am 31.03.2022 um 17:13 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.03.22 um 17:26:
Merci Piccola,
es gab auch andere, die ich Kriegsschwadronierer nennen möchte. Da sind mir die Verschwiegenen lieber, weil ich Scham als Motiv annehmen möchte. Aber das Schweigen ist selbstverständlich keine Lösung.
Liebe Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (31.03.22, 22:55)
Diese Silberstreifen wurden von den Alliierten "Windows" und von den Deutschen "Düppelstreifen" genannt. Sie waren auf die halbe Länge der Radarfrequenzen geschnitten und wurden von den alliierten Bombern tonnenweise während des Angriffs abgeworfen um auf den Anzeigen der deutschen Radarbedienern ein Rauschen entstehen zu lassen. Eine wirkliche Gegenmaßnahme gab es nicht. Jedoch  fand man auf deutscher Seite bald heraus, dass diese langsam zu Boden rieselnden Streifen ein in der Luft stehendes Rauschen verursachten, während die Flugzeuge - die Ziele der Flak und der Jäger in der "Reichsverteidigung" - sich schnell bewegten.

Als diese "Düppelstreifen" zum ersten Mal eingesetzt wurden, wussten die deutschen Radarbediener - die ja nicht nur die Flak steuerten, sondern auch die deutschen Jäger, die besonders in der Nacht auf Radar angewiesen waren, um ihre Ziele zu finden - noch nicht damit umzugehen. Dies war während der "Operation Gomorrah" im Sommer 1943, einer Reihe von Luftangriffen auf Hamburg. Die "Düppelstreifen" ließen diese Angriffe zu der für die deutsche Bevölkerung verlustreichsten Einzeloperation des strategischen Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg werden.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.04.22 um 16:27:
Merci, Trekan, ich bin froh, in dir einen so sachkundigen Kommentator zu haben.
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