Der Diplomat unter dem Tisch

Anekdote zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Im August 1971 herrschte in Dubrovnik lähmende Hitze. Das Publikum unseres Hotels war versnobt  und der Urlaub drohte ein Reinfall zu werden.
Da hörte ich im Radio in deutscher Sprache eine Sendung, die für orthodoxen Kommunismus warb, wie man ihn zum Beispiel in Albaniens Hauptstadt Tirana erleben könne. Etwas später entdeckte ich im Foyer des Hotels ein Plakat, das für eine viertägige Busreise von Dubrovnik nach Tirana warb.
Eine jugoslawische Reiseleiterin warnte meine Frau und mich eindringlich vor dieser Reise ins „Herz des Stalinismus“. Doch eine schwedische Reiseleiterin riet uns zu. Wo böte sich sonst die Möglichkeit, diesen Kommunismus live zu erfahren? Wir folgten ihr und starteten zwei Tage später nach Tirana.
Die Reise begann viel versprechend, denn in dem Bus befanden sich elf verschiedene Nationen, alle auf etwas Außerordentliches gespannt. Sie sollten nicht enttäuscht werden.
Zunächst behielt die jugoslawische Reiseleiterin mit ihrer Warnung Recht. An der albanischen Grenze empfing uns ein mehrere Meter hoher Zaun aus Stacheldraht, in den Dörfen bewarfen finster blickende Fanatiker unseren Bus mit Steinen und von den Bergen verkündeten aus Kieseln zusammengesetzte riesige Buchstaben die Unfehlbarkeit des albanischen Präsidenten Enver Hodscha.
Als wir nachmittags in Tirana ankamen, empfahl uns der albanische Reiseleiter, der in der DDR Deutsch gelernt hatte, eine längere Siesta. Er würde uns dann abends die Stadt zeigen.
Meine Frau und ich wollten keine Zeit verschenken und erkundeten Tirana auf eigene Faust. Die breiten gepflegten Boulevards mit zahlreichen Radfahrern und nur ganz wenigen Autos waren beeindruckend, ebenfalls die Nationalbibliothek. die neben den unvermeidlichen Marx, Lenin und Stalin sogar Liebeslyrik in deutscher Sprache enthielt.. Abstoßend war die überall spürbare Xenophobie. Wir hörten keine freundliche Floskel. Man nahm keinen Dinar Trinkgeld von uns an und zahlte auf den Pfennig genau mit Bonbons zurück.
Dann kam abends alles anders als von der Reiseleitung geplant. Der Albaner informierte uns absichtlich nur beiläufig darüber, dass in der Taverne getanzt werde, denn er wollte uns ja Tirana zeigen. Da meine Frau und ich die Stadt bereits gesehen hatten, entschieden wir uns, in die Taverne zu gehen und die Mitreisenden folgten im Herdentrieb uns, den Entschlossenen. Kaum hatten wir die Tür zu dem Tanzsaal geöffnet, erwartete uns schon die erste Überraschung. Die Kapelle spielte nämlich deutsche Schlager, die sie aus der Zeit der Nazi-Besatzung noch kannte, und sie sang in gebrochenem Deutsch „Schön blühn die Heckenrosen“, „Was machst du mit dem Bein, lieber Hans“  und „Tante Hedwig, die Nähmaschine geht nicht“.
Durch diesen Verfremdungseffekt kam sofort Stimmung auf, befeuert durch sehr preiswerte alkoholische Getränke, denen sich die Reisegruppe gerne überließ, weil sie Exotisches erleben wollte. Darauf brauchte sie nicht lange zu warten. Die Tür öffnete sich und herein kam ein äußerst fein gekleideter Anzugträger, der darum bat, sich an unseren Tisch setzen zu dürfen. Gelegentlich warf er einen Blick auf seine mit astronomischen Zeichen verzierte wunderschöne Armbanduhr. Diese zog begehrliche Blicke eines Deutschen auf sich, der ebenfalls an unserem Tisch saß, und er fragte den eleganten Besitzer nach dem Preis. Dieser antwortet auf Englisch in ironischen Ton, dass die Uhr nichts koste, aber er könne sie ihm schenken. Dieser ließ sich durch die vornehme Distanz des Trägers nicht beeindrucken, fragte dreimal und erhielt dreimal eine ähnliche Antwort. Dann forderte er den Eleganten auf, ihm die Uhr mal zur Betrachtung zu geben. Vornehm geht die Welt zugrunde, so auch dieser Gentleman, der der Diplomat Fidel Castros in Tirana war und sich genierte, die Uhr von dem frechen Deutschen zurückzufordern. Der grinste unverschämt, freute sich schadenfroh mit dem albanischen Reiseleiter, der meinte, dem feinen Pinkel sei gerade recht geschehen, denn er habe ja selbst gesagt, dass er die Uhr verschenken könne. Später erfuren wir, dass hinter der Schadenfreude des Albaners ideologische Meinungsverschiedenheiten mit dem Kubaner über die richtige Auslegung des Marxismus steckten.
Kurz darauf erschien an unserem Tisch ein zweiter ebenfalls sehr korrekt gekleideter Anzugträger, der mit viel Schwung eine sehr attraktive Holländerin zum Tango entführte. Die beiden gaben ein komisches Bild ab, denn er, sehr viel kleiner als sie, hing schmachtend an ihrem Busen. Aber ihr gefiel der gewandte Tänzer und sie warf in Manier von Anita Ekberg ihre Sandalen auf die Tanzfläche, um barfuß weiter zu tanzen. Ich holte unbemerkt die Schuhe und als die beiden endlich zum Tisch zurückkehrten, hielt er vergebens nach ihnen Ausschau. Schließlich ahnte er, dass die Sandalen von Hand zu Hand weitergegeben wurden, fiel auf die Knie und versuchte sie unter dem Tisch zu erhaschen. Die Gesellschaft amüsierte sich köstlich, denn der Kniefällige unter dem Tisch war der italienische Diplomat in Tirana.

Die Anekdote wird fortgesetzt

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (27.05.21)
Lieber Ekki,

auch ich lernte noch das "sozialistische" Albanien mithilfe einer Studienfahrt kennen, aber zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt. Die Umweltverscmutzung hatte ihren Fortgang genommen und Tirana lag meist unter einer Smogglocke. Gemüse war in diesem fruchtbaren Land Mangelware und stand vorwiegend den Touristen zur Verfügung. Da blieb einer die Tomate im Halse stecken ...
Verschämt zeigten sich bettelnde Kinder.
Neue Schuhe gab es in ganz Albanien nicht.

Insofern sind deine Beobachtungen für mich besonders interessant, und ich warte schon jetzt auf eine Fortsetzung.

Herzliche Grüße
Piccola

Kommentar geändert am 27.05.2021 um 08:32 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.05.21:
Sehr interessant, Piccola, du hast schon die Folgen kommunistischer Mangelwirtschaft erlebt. 1971 war noch nirgends eine Spur von Armut zu entdecken und entsprechend groß war auch das Selbstbewusstsein der Bevölkerung, die uns als Emissäre des Kapitalismus ablehnte.

Herzliche Grüße
Ekki

 harzgebirgler (27.05.21)
eindruckvoll beschrieben & gerne gelesen!

...der enver hodscha regierte das land
jahrzehntelang schon mit eiserner hand
wer dem da in die quere kam
am leben meist nicht mehr teilnahm
im knast entweder oder sarg -
das volk lebte weit mehr als karg
doch geld tat er verprassen
für bunkerbau in massen...

lg
henning

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 27.05.21:
Merci, Henning,
es gab 1971 nur zwei spärlich genutzte Grenzübergänge nach Albanien, sodass die isolationistische Außenpolitik des Diktators, mit der er Furcht und Schrecken verbreitete, von seinen Untertanen kaum überprüft werden konnte.

LG
Ekki

Antwort geändert am 27.05.2021 um 19:51 Uhr

 minimum (27.05.21)
Unfreundliche Autochthone, die Fremde mit Steinen bewerfen - das erinnert mich lebhaft an Oberbayern, wo ich in den 70ern im Wahlkreis von Franz-Josef Strauß aufwachsen durfte. Diplomaten gab es da allerdings gar keine

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 27.05.21:
Spassibo, Minimum, in Weilheim wurden weder der Charme noch die Diplomatie erfunden, aber es gab wenigstens eine gewisse Leutseligkeit, mit der sich auch Franz Josef beliebt zu machen wusste. :)

 Didi.Costaire (27.05.21)
Hallo Ekki,

das klingt ja am Ende geradezu unwirklich und nicht ungefährlich. Ich bin gespannt, was noch passiert...

Liebe Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 27.05.21:
Merci, Dirk, du hast ein feines Gespür, es wurde tatsächlich noch gefährlich in Tirana. . Ich werde bei der Fortsetzung davon berichten.

Liebe Grüße
Ekki

 indikatrix (27.05.21)
Ich habe diesen Text sehr gerne gelesen und bin gespannt auf die Fortsetzung, humorvoll, informativ und spannend geschrieben,
vielen Dank dafür,
liebe Grüße indikatrix

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 27.05.21:
Vielen Dank, Indi, ich glaube selber , dass diese Anekdote spannend ist, aber das hat diesmal nichts mit meinem Erzählvermögen zu tun. Die sensationellen Ereignisse in Tirana stellten sich wie von selbst ein, sodass ich sie nur wiederzugeben brauche.

Liebe Grüße
Ekki

Antwort geändert am 27.05.2021 um 20:26 Uhr

 Dieter_Rotmund (27.05.21)
"ungermeidlichen" ?

 TassoTuwas (27.05.21)
Hallo Ekki,
Diplomaten scheinen ja rechte Spaßvögel zu sein.
Oder schickt man solche Typen nur in unhumorige Länder?
Die Anekdote jedenfalls hat mir gefallen.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.05.21:
Gracias, Tasso, es könnte sein, dass in dem stalinistischen Gewächshaus Tirana jeder Diplomat zum Spaßvogel mutierte. Es gab damals übrigens nur noch zwei weitere Diplomaten in Tirana, den jugoslawischen und den schwedischen.. Die zwitscherten bestimmt im Tanzsaal des zweiten
Luxushotels. :)
Herzliche Grüße
Ekki

 Graeculus (27.05.21)
Eine feine Darstellung einer Zeit, die uns heute aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Man mag es kaum glauben, aber so war es, was uns der Eiserne Vorhang und die hinter ihm stattfindenden ideologischen Differenzen beschert haben.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.05.21:
Ja, Graeculus, auf dieser Reise war es besonders interessant , die gravierenden ideologischen Differenzen innerhalb des Kommunismus zu erleben, Ich habe es in der Erzählung schon angedeutet. Der albanische Reiseleiter charakterisierte den kubanischen Diplomaten Fidel Castros mit Worten, die auf den deutschen Begriff "Scheiß-Liberaler" hinausliefen. Er bezeichnete auch den Sozialismus Titos als inakzeptable Verwässerung des wahren Marxismus-Leninismus.

 AZU20 (27.05.21)
Da hast Du wieder eine Menge erlebt. Freue mich auf die Fortsetzung. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.05.21:
Vielen Dank, mein Freund. Die alte Phrase gilt: Das Leben schreibt die schönsten Geschichten.

LG
Ekki
Rita (56)
(29.05.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.05.21:
Merci, ich kann deine Empfindungen gut nachvollziehen, Rita Selbstverständlich kannst du die Erzählung mit deinen Freunden aus Albanien teilen..
Liebe Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund (19.03.22, 08:55)
"astromisch"?
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